"Der Ukraine müssen die Grenzen der Unterstützung aufgezeigt werden"

US-Präsident Biden und der ukrainische Präsident Selenskyj im Weißen Haus. Archivbild (September 2021): Weißes Haus/gemeinfrei

New York Times: Kritik an Ukraine-Politik von USA und Nato. "Alternativlosigkeit des militärischen Wegs" bräuchte auch hier ein nüchternes Contra

Gerade hat der amerikanische Präsident Joe Biden seine Unterschrift für weitere 40 Milliarden US-Hilfe an die Ukraine gesetzt. Seit Beginn des Krieges flossen fast 10 Milliarden US-Dollar an militärischer Hilfe von den USA in das Bollwerk des Westens, dazu kommen 6,8 Milliarden an Militärhilfen von 2014 bis 2021.

Um den Staat aufrechtzuerhalten, der schon vor dem Krieg finanziell wegen vorhandener "Liquiditätslücken"(Finanzminister Lindner) unterstützt werden musste, sollen pro Monat fünf Milliarden US-Dollar notwendig sein. Die G7 haben dafür zusammen mit der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds fast 20 Milliarden US-Dollar zusammengebracht – neun Milliarden alleine die USA, eine Milliarde Deutschland.

Humanitäre Hilfen und die militärische Unterstützung sind hier nicht enthalten. Die EU will zusätzlich neun Milliarden zur finanziellen Unterstützung bereitstellen. Welches Milliardenloch die Ukraine auch schon vor dem Krieg darstellte, macht das Finanzministerium deutlich: "Allein die Unterstützung für die Jahre 2014 bis 2021 habe über 60 Mrd. US-Dollar betragen. Dazu habe Deutschland nach den USA den zweitgrößten Anteil beigesteuert."

Washington will offenbar einen Sieg der Ukraine – die "Front der Freiheit" (Austin) -, koste es, was es wolle, und setzt die Partner entsprechend unter Druck. Unter Vorsitz des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin versammelte sich am gestrigen Montag schon zum zweiten Mal die US-initiierte Ukraine-Kontaktgruppe; zwar nur virtuell, jedoch mit weiteren realen Zusagen von Waffenlieferungen.

Beim ersten Treffen hatte Austin das US-amerikanische Ziel klar gemacht, das nicht primär die Verteidigung der Ukraine ist, vielmehr soll mittels des von der Ukraine ausgefochtenen Kriegs eine Schwächung Russlands erreicht werden:

Wir wollen, dass Russland so weit geschwächt wird, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann.

Lloyd Austin

Auch, dass das virtuelle Treffen der Vertreter der 40 Staaten der Ukraine-Kontaktgruppe auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein stattfand, ist ein Zeichen, wer hier das Sagen hat. Erwartet wurde von Washington, dass die Partner mehr und weitere Zusagen an Militärhilfe machen: 20 Staaten sicherten weitere Waffenlieferungen zu.

"Es liegt nach wie vor nicht in Amerikas Interesse, sich in einen totalen Krieg mit Russland zu stürzen"(NYT)

Nicht nur in manchen republikanischen Kreisen wird die militärische Unterstützung der Ukraine durch die Biden-Regierung aus eher innenpolitischen Gründen kritisch angesehen, sondern jetzt auch von der New York Times, dem wahrscheinlich wichtigsten amerikanischen Medium, das den Demokraten zugeneigt ist.

In einem Kommentar der Redaktion (Editorial Board), der am vergangenen Freitag veröffentlicht wurde, heißt es, der Krieg werde kompliziert, die Aussichten seien ungewiss und die US-Regierung sei darauf nicht vorbereitet, zumal sie bei allem Geld- und Waffenregen über der Ukraine nicht erklärt, was das Ziel des Kriegs sein soll bzw. immer mal wieder andere Ziele nennt. Was meint man, wenn, wie üblich geworden, von einem "Sieg" gesprochen wird, zu dem man der Ukraine verhelfen will?

Von Verhandlungen ist nicht die Rede, verhandelt haben, was die NYT nicht erwähnt, Washington und die Nato aber auch nicht vor Kriegsausbruch, sondern lediglich Gespräche über sekundäre Themen angeboten, wohl wissend, was aus der Gesprächsverweigerung entstehen könnte. Das Editorial Board bezeichnet folgende Fragen als unbeantwortet:

Versuchen die Vereinigten Staaten zum Beispiel, zur Beendigung dieses Konflikts beizutragen, indem sie eine Lösung herbeiführen, die eine souveräne Ukraine und eine Art Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland ermöglicht? Oder versuchen die Vereinigten Staaten jetzt, Russland dauerhaft zu schwächen?

Hat sich das Ziel der Regierung darauf verlagert, Wladimir Putin zu destabilisieren oder ihn zu stürzen? Beabsichtigen die Vereinigten Staaten, Wladimir Putin als Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen?

Oder besteht das Ziel darin, einen größeren Krieg zu vermeiden – und wenn ja, wie lässt sich dies mit der Behauptung erreichen, die USA hätten nachrichtendienstliche Informationen geliefert, um Russen zu töten und eines ihrer Schiffe zu versenken?

New York Times

Es sei unrealistisch, Russland wieder hinter die Grenzen von 2014 zurückzudrängen, dafür sei Russland militärisch zu stark. Jetzt schon seien die USA und die Nato militärisch und ökonomisch tief involviert – man hätte auch sagen können: Kriegsparteien –, überzogene Erwartungen könnten zu einem "teuren, sich hinziehenden Krieg" führen und Russland sei eben weiterhin eine Atommacht. Bislang wird die Ukraine uneingeschränkt unterstützt, aber ganz entscheidend sei, die Grenzen der Unterstützung darzulegen.

Wenn Washington nicht erkläre, was die Regierung erreichen will, riskiere man, dass die Unterstützung der US-Bevölkerung für die Ukraine schwindet, da ihr die Inflation sowie der Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise näher als die Ukraine seien und gefährde damit langfristig Frieden und Sicherheit in Europa.

Letztlich müssten die Ukrainer zwar die harten Entscheidungen auch über territoriale Zugeständnisse treffen, wann und zu welchen Bedingungen sie verhandeln wollen, aber die USA und die Nato müssten Selenskyj und seinem Volk klar machen, "dass es eine Grenze dafür gibt, wie weit die Vereinigten Staaten und die Nato in der Konfrontation mit Russland gehen werden, und dass es Grenzen für die Waffen, das Geld und die politische Unterstützung gibt, die sie leisten können. Die Entscheidungen der ukrainischen Regierung müssen unbedingt auf einer realistischen Einschätzung ihrer Mittel und der Frage beruhen, wie viel Zerstörung die Ukraine noch verkraften kann".

Das bringt den aufgeheizten moralischen Kriegsenthusiamus auf eine politische Ebene, die in den meisten Unterstützerstaaten dringend für Diskussionen und Entscheidungen notwendig wäre, selbstverständlich auch in Deutschland, wo alle Positionen moralisch verpönt werden, die nicht unbedingte und blinde Hilfe leisten wollen.

Zu dieser Ebene gehört es, Risiken abzuwägen, stellvertretend auch für die ukrainische Bevölkerung, die weder von Kiew noch von den Unterstützerstaaten informiert wird, welchen Blutzoll sie leisten und mit welchen Schäden sie vielleicht auf Jahrzehnte hin rechnen muss. Der derzeit herrschende kriegerische Diskurs, der auf einen militärischen Sieg der Ukraine setzt, tritt als Haltung ohne Alternativen auf, die nur Freund oder Feind kennt. Alternativenlos ist aber nur der Tod, den eine solche radikalmoralische Haltung auch mit sich bringt.

Regierungen, so die Redaktion der NYT, müssten sich mit den realistischen Begrenzungen und Risiken konfrontieren und sollten nicht einem "illusorischen 'Sieg' hinterherjagen". Man hält sich allerdings mit Ratschlägen für eine Lösung des Krieges und des Konflikts zurück und hinterfragt auch nicht, welche Fehler Washington und die Nato gemacht haben, die zur Entstehung des Krieges beigetragen haben.

Man ist sich aber sicher, dass Russland auf Jahre hinaus geschwächt sein wird und dass Putin als "Schlächter" in die Geschichte eingehen wird und gibt Biden noch den Rat, an die Großmacht USA zu denken: "Amerikas Unterstützung für die Ukraine ist ein Test für seinen Platz in der Welt des 21. Jahrhunderts, und Herr Biden hat die Gelegenheit und die Pflicht, dabei zu helfen, diesen Platz zu definieren."

Die NYT hat in der Opinion/Meinungsrubrik auch einen Beitrag von Timothy Snyder veröffentlicht, der behauptet, Russland sei faschistisch. Von den rechtsnationalistischen Tendenzen in der Ukraine ist dort erwartungsgemäß nicht die Rede, auch nicht von der Kollaboration von Bandera, der als Held verehrt wird, mit den Nazis.