Versammlungsverbote: Wenn Grundrechte vorbeugend eingeschränkt werden

Im Fall propalästinensischer Versammlungen Mitte Mai bestätigten auch Gerichte die Verbote. Symbolbild: ID_249 auf Pixabay (Public Domain)

Verbote von Demos mit Palästina-Bezug abzulehnen, setzt keine Sympathie für Parolen voraus, die dort vielleicht (!) gerufen werden

"Versammlungsfreiheit gilt auch für Palästinenser" lautete die Überschrift eines Beitrags des Juristen Ralf Michaels auf dem Verfassungsblog, der sich aus einer zivilgesellschaftlichen Perspektive kritisch mit Grundrechtseingriffen auch in den Ländern befasst, die sich selbst als der freie Westen definieren.

Anlass des Beitrags war das Verbot von gleich fünf angemeldeten Demonstrationen aus den propalästinensischen Spektrum Mitte Mai in Berlin. Für den Juristen besonders bemerkenswert, wurden diese Verbote auch durch Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte bestätigt. Die Versammlungsbehörde hat die Veranstaltungen unter Berufung auf "zu erwartende Gewalttätigkeiten sowie volksverhetzende und antisemitische Äußerungen" untersagt. Der Verlauf früherer ähnlicher Veranstaltungen rechtfertigt nach Auffassung des Gerichts diese Gefahrenprognose.

Für den Juristen Michaels handelt es sich um eine bedenkliche Entwicklung:

Die Berliner Polizei erkennt durchaus an, dass Palästinenser verärgert sind; sie meint, in der jetzigen angespannten Lage in Nahost sei "fortlaufend mit Vorfällen zu rechnen, die den Zorn hier lebender Palästinenser hervorrufen können. Erstaunlicherweise sieht sie aber genau in diesem Anlass für Demonstrationen zugleich einen Anlass für deren Verbot.

Die Verbindung mit dem historischen "Nakba-Tag", so die Polizei, dürfte im Zusammengang mit den aktuellen Ereignissen im Westjordanland, im Ostteil Jerusalems und dem Gaza-Streifen zu einer massiven Verstärkung der Emotionalisierung führen. Aber das ist ja genau der Anlass für die Demonstration. Wer nichts auszusetzen hat, demonstriert ja auch nicht.


Ralf Michaels, Verfassungsblog

Tatsächlich könnte diese Begründung Tür und Tor für weitere Kundgebungs- und Demonstrationsverbote ebnen. Tatsächlich sind die Anlässe meistens Ereignisse, die eine Gruppe von Menschen ablehnt. Sie wollten ihren Protest und ihre Wut auf die Straße tragen; und genau das könnte dann eben zur Prognose führen, dass womöglich fragwürdige Parolen gerufen werden oder Transparente gezeigt werden, die politisch von vielen mit Recht verurteilt werden.

Ist das dann aber ein Grund für ein Versammlungsverbot? Nicht nur Michaels hat da seine Zweifel und sieht in einem Beitrag für die Berliner Zeitung sogar die Verfassung pervertiert. Auch Politiker der Linkspartei kritisierten das Verbot. In der taz schreibt Lea Fauth von einem falschen Verständnis der Grundrechte. Dabei betont sie – was sehr wichtig ist –, dass sie keinesfalls mit den Aussagen und Parolen übereinstimmt, die auf den verbotenen Demonstrationen gerufen worden wären.

Sie findet es aber rechtsstaatlich höchst bedenklich, wenn schon die Möglichkeit, dass solche Parolen gerufen werden, dazu führt, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ausgesetzt wird.

Im Zweifel für die Grundrechte

In der Vergangenheit wurden von der Polizei erlassene Demoverbote beispielsweise gegen Neonazis mehrfach mit dem Verweis auf die hohe Bedeutung des Versammlungsrechts von der Justiz gekippt. Gelegentlich haben in der Vergangenheit auch Gruppen der außerparlamentarischen Linken von einer Justiz profitiert, die im Zweifelsfall für die Grundrechte eingetreten sind und Verbote oder Auflagen der Ordnungsbehörden für rechtswidrig erklärt haben.

Das hat dann bedeutet, dass auch Aufmärsche von rechten Gruppierungen nicht verboten waren, was aber antifaschistische Gruppen nicht daran hinderte, lautstark auch in Sicht- und Hörweite dagegen zu protestieren. Tatsächlich ist es aus emanzipatorischer Perspektive begrüßenswert, wenn nicht alle Kundgebungen und Demonstrationen vom Staat verboten werden. Aber klar muss auch sein, dass es kein Recht auf Demonstrationen und Kundgebungen ohne Gegenproteste gibt.

Die Rechten haben dann die Möglichkeit, ihre Kundgebung durchzuführen, müssen aber damit leben, dass die Ablehnung ihrer Politik auch lautstark hörbar ist. Das ist auch die Position von Lea Fauth, die in der taz schreibt:

In einem Land, wo Meinungsfreiheit herrscht, ist es Aufgabe der Zivilgesellschaft, sich derart menschenverachtenden Demonstrationen in den Weg zu stellen. Zahlreiche Antifa-Gruppen aber auch lose vernetzte Menschen tun das immer wieder mit bemerkenswerter Ausdauer. Als die rechtsextreme Partei "III. Weg" am 3. Oktober 2020 in Berlin-Hohenschönhausen einen Aufmarsch unternehmen wollte, gab es so viele und große Sitzblockaden auf der Demoroute, dass die Neonazis umkehren mussten. Ihre Reden auf einem Platz wurden mit lauten Protestrufen gestört.


Lea Fauth, taz

Das weitgehende Schweigen der gesellschaftlichen Linken

Es gibt doch in Berlin israelischsolidarische Menschen, die auch regressivem Antizionismus, wenn er sich auf der Straße zeigt, mit Parolen und Transparenten entgegentreten können. Es wäre also begrüßenswert gewesen, wenn die Demonstrationen aus dem propalästiensischen Milieu hätten stattfinden können, aber eben auch mit Protest von israelsolidarischen Menschen konfrontiert worden wäre.

Durch die Verbote aber wird eine solche Auseinandersetzung autoritär durch die Staatsapparate verhindert. Und das in Berlin, wo erst im letzten Jahr das Versammlungsgesetz reformiert wurde und viel von einer Liberalisierung die Rede war. Im Zweifel für die Grundrechte sollte die Devise sein.

Nur wenige Tage vor den Verboten der propalästinensischen Kundgebungen und Demonstrationen wurden die Verbote russischer, sowjetischer und ukrainischer Fahnen im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Sieges über den deutschen Faschismus rigide durchgesetzt. Auffällig ist, dass es erfreulicherweise Proteste von kritischen Juristen und liberalen Medien gibt, aber ein Großteil der gesellschaftlichen Linken still bleibt, was der Publizist Daniel Bax in der Wochenzeitung Freitag kritisch anmerkt.

Galt da nicht mal der Grundsatz, dass man den Kampf gegen reaktionäre Ideologie, seien es Neonazis oder auch Antisemitismus in Form eines regressiven Antizionismus, selbst erledigen muss und nicht auf die Staatsapparate vertrauen sollte? Ist also das weitgehende Schweigen der gesellschaftlichen Linken zu den Demoverboten vielleicht eine Folge der merkwürdigen Staatsgläubigkeit, die der Politologe Joachim Hirsch bereits in der Corona-Frage kritisierte, die aber bei einem Großteil der Linken auch im Ukraine-Krieg zu bemerken ist?