Querdenker und Co.: Rettet uns mal wieder der "Verfassungsschutz"?

Mit der "verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" schuf der Inlandsgeheimdienst einen neuen Phänomenbereich. Dem widmet sich auch ein Kapitel des neuen Grundrechte-Reports

Im April 2021 informierte das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass nunmehr bundesweit auch Personen und Gruppen der Querdenker-Bewegung von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet werden und mit nachrichtendienstlichen Mitteln ausgeforscht werden können.

Hierzu hat der deutsche Inlandsgeheimdienst einen neuen Phänomenbereich, die "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" geschaffen. Bis dahin haben die Inlandsgeheimdienste vier Phänomenbereiche – Linksextremismus, Rechtsextremismus, Islamismus bzw. islamistischer Terrorismus und Ausländerextremismus – unterschieden.

Der Schaffung des neuen Phänomenbereichs vorangegangen waren 2020 der "Verfassungsschutz" von Baden-Württemberg mit der Beobachtung von "Querdenken 711" und der "Verfassungsschutz" von Nordrhein-Westfalen mit der Beobachtung von Protestbewegungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen.

Nach Auskunft des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul gehören etwa 50 unterschiedliche Gruppierungen im Netz und in der realen Welt dazu, u. a. "... Kritiker der Schulmedizin, Impfgegner, Esoteriker, Aussteiger, Hooligans, Reichsbürger, Rechtsextremisten, aber auch Bürgerinnen und Bürger aus vielen Teilen der Gesellschaft".

"Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates"?

Verfassungsschützer:innen und Innenminister:innen betonen zwar, dass Kritik an staatlichen Maßnahmen im Zusammenhang mit Corona selbstverständlich zulässig und dass es legitim sei, gegen staatliche Maßnahmen zu demonstrieren. Aber wie Herbert Reul stellen sie fest: "Teile der Querdenker wollen aber [...] diesen Staat bekämpfen. Aus manchen Corona-Skeptikern sind Demokratiefeinde geworden, die unsere Freiheit und Sicherheit bedrohen."

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, erklärte zu dem neuen Phänomenbereich "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates":

Die Pandemie hat neue, ernstzunehmende Entwicklungen hervorgebracht [...] Das Bundesamt für Verfassungsschutz betrachtet im Rahmen seines gesetzlichen Auftrags sehr aufmerksam die aktuellen Entwicklungen sowie die zunehmende Radikalisierung einiger Akteure in diesen Protesten: Äußerungen mancher Versammlungsteilnehmer wenden sich in verächtlichmachender Weise gegen Staat und Demokratie. Gleichzeitig werden vermehrt verschwörungstheoretische Narrative verbreitet. […]

Unser Interesse gilt hier – das möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich betonen – nicht einer kritischen Haltung von Protestteilnehmern gegenüber der Bundesregierung. Sondern: Es gilt den Gewaltaufrufen und Angriffen auf unsere Demokratie. Ob es sich dabei um Verschwörungstheorien jeglicher Art oder Protagonisten der Querdenker-Bewegung handelt: Es wird deutlich, dass hier die Agenda über die reine Mobilisierung zu Protesten hinausgeht und darauf abzielt, das Vertrauen in staatliche Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig zu beschädigen.


Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV)

Gesetzwidrige Aufgabenerweiterung

Hier wird erschreckend deutlich, wozu sich der deutsche Inlandsgeheimdienst neuerdings für zuständig hält: Das nachlassende Vertrauen in staatliche Institutionen und seine Repräsentant:innen zu bekämpfen!

Nach dem Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) ist Aufgabe des Inlandsgeheimdienstes "Verfassungsschutz" die Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben.

Dass jemand, der kein Vertrauen in die staatlichen Institutionen oder Repräsentant:innen hat oder der mit den sogenannten Reichsbürgern sympathisiert, die meinen, es gebe gar keine Bundesrepublik Deutschland, oder der Verschwörungsideologien verbreitet wie etwa, dass Bill Gates die Corona-Pandemie organisiert habe, oder bestreitet, dass es überhaupt eine Corona-Pandemie gibt, danach strebt, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder der Länder zu beseitigen, steht in § 2 BVerfSchG nicht und erscheint einigermaßen abwegig.

Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder betont, dass zur freien Meinungsäußerung des Artikels 5 GG auch dumme, schädliche und abwegige Meinungen gehören. Das ist die Essenz eines demokratischen Rechtsstaates und nicht seine Gefährdung.

Querdenker als Extremisten

Auch ist völlig unklar, wo die Grenze zwischen der auch vom Geheimdienst theoretisch akzeptierten Kritik an staatlichen Corona-Maßnahmen und der auf Verschwörungstheorien gegründeten Kritik zur Delegitimierung des Staates liegen soll. Eine klare rechtsstaatliche Abgrenzung ist nicht möglich und wohl auch nicht gewollt. Mit Hilfe des neuen Phänomenbereichs "verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" werden die Querdenker:innen laut Haldenwang als Extremisten definiert, die der "Verfassungsschutz" glaubt beobachten zu dürfen.

Dabei hat das Bundesverfassungsgericht längst klargestellt, dass es sich beim Begriff "Extremisten" um einen rein politischen Kampfbegriff handelt, und nicht um einen Rechtsbegriff. Ob eine Position als extremistisch einzustufen ist, ist demnach "eine Frage des politischen Meinungskampfes und der gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung", die "in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einschätzungen" steht. (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 08 . 12 . 2010, Az. 1 BVR 1106 / 08)

Das Selbstverständnis des "Verfassungsschutzes", die immer wiederholte Begründung für seine Notwendigkeit, ein "Frühwarnsystem" zur Erkennung von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu sein (Bundesverfassungsschutzbericht 2020, S. 18), wird durch die Öffentlichkeit, die Medien und die Wissenschaft widerlegt: Sie waren es, die die Querdenker-Bewegung und damit zusammenhängende Phänomene wie Verschwörungstheorien, Staats- und Politikfeindlichkeit, abwegige Vergleiche mit der Diktatur des Nationalsozialismus usw. festgestellt und öffentlich gemacht haben und nicht der Geheimdienst als Frühwarnsystem.

Er stolpert hinterher. Gegen Politikfeindlichkeit, Verschwörungsideologien und Dummheit aufzustehen und diese zurückzuweisen, obliegt uns, den BürgerInnen und nicht einer Behörde, die Bürger:innen mit geheimdienstlichen Mitteln beobachtet. Der Inlandsgeheimdienst "Verfassungsschutz" schützt die Verfassung nicht. Er schadet ihr und gehört aufgelöst.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem Grundrechte-Report 2022, herausgegeben von: Benjamin Derin, Andreas Engelmann, Vera Fischer, Rolf Gössner, Wiebke Judith, Hans-Jörg Kreowski, John Philipp Thurn, Rosemarie Will, Michèle Winkler

Verlag: FISCHER Taschenbuch

ISBN: 978-3-596-70805-5

224 Seiten

13,00 Euro

Rezension auf Telepolis

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