Russen und Ukraine-Krieg: Die "andere" Moral

Moralisierend agieren im Konflikt nicht nur Befürworter von mehr Waffen im Westen. Auch in Russland haben Kriegsfans die Moral scheinbar auf ihrer Seite.

Moralische Verpflichtung zu mehr Waffen

Wenn sich westliche Kriegsgegner erdreisten, die Lieferung von schweren Waffen in den Ukrainekrieg nicht als besten Weg für die dort sterbenden Zivilisten anzusehen, wird ihnen im Diskurs häufig moralisierend begegnet. Man müsse den überfallenen Ukrainer aus moralischen Gründen beistehen, ihnen die Verteidigung gegen den Aggressor Russland ermöglichen.

Moralische Gründe für ein sofortiges Kriegsende verfangen bei der russischen Bevölkerung ebenfalls nur bei einer modern denkenden und empathischen Minderheit, die ihren Schwerpunkt unter jüngeren Altersgruppen und der urbanen Bevölkerung von Metropolen hat.

Selbst unter diesen Großstadtrussen gäbe es gegenüber dem Krieg oft einen zynischen Pragmatismus, stellt der russische Innenpolitikexperte Alexander Baunow gegenüber der Wochenzeitung Der Freitag fest. Viele denken dort nach seiner Meinung "man würde uns das Gleiche antun, wenn man könnte" und wenn es schnell mit einem Sieg Russlands über die Bühne ginge, wäre das Leid der Zivilisten auch schneller vorbei.

Die Moralisieren des Leides von Zivilisten durch den Westen wird angesichts dessen eigener Angriffskriege in der Vergangenheit als Doppelmoral gewertet.

Die russische, mehrheitliche Moralvorstellung ist anders und die dortige Kriegspropaganda zur Ukraine nicht frei von moralisierenden Ansätzen. Zum einen bedient sie sich einer aus der Sowjetepoche stammenden, im Westen eher unbekannten Staatsmoral. Zum anderen birgt die von Putin unbestimmt propagierte "Denazifizierung" der Ukraine einen moralisierenden Ansatz, der wie seine westlichen Gegner zur Motivation der eigenen Unterstützer ein Gut-Böse-Schema nutzt.

Russische Staatsmoral: Was dem Staat nützt ist moralisch

Die Petersburger Schriftstellerin Elena Tschischowa beschreibt die russische Staatsmoral sehr treffend mit den Worten, dass an der Spitze der totalitären Moralpyramide der Staat steht. Alles was dem russischen Staat nützt, ist per Definition moralisch.

Diese Denkweise knüpfe direkt an die "Liebe zum sozialistischen Vaterland" der UdSSR an, der Staat stehe idealisiert für Tugenden wie Reinheit und Brüderlichkeit. Diese Denkweise stelle die staatliche "Gemeinschaft" über die Interessen des "kleinen Mannes" mit seinen eigenen Sorgen und Freuden, der nur am Fuße der Pyramide irgendwo unbedeutend im Staub herumtrampele.

Aus dieser Sichtweise wird ein nach humanistischer Vorstellung zutiefst moralischer Antikriegsprotest in Russland plötzlich zu etwas unmoralischem. Einzelne oder Gruppen fallen dem Staat und noch mehr der Armee als "Verteidiger der Gemeinschaft" mit solchen Aktionen "in den Rücken", handeln im Sinne des "Staatsmoralismus" unlauter.

Putin selbst ist laut Tschischowa Anhänger dieses Denkens und habe den "Moralkodex des Erbauers des Kommunismus" von 1961, der eine wichtige ideologische Grundlage dieses Denkens ist, als "einen Auszug aus der Bibel" bezeichnet.

Notwendig zur Aufrechterhaltung dieser Denkweise ist es, zivile Opfer der eigenen Invasion auszublenden oder zu vernachlässigen, Personen – und seien es auch noch so wenige –, die die Invasoren als willkommen begrüßen, ins Zentrum zu stellen, um den Staat und sein Vorgehen im Nachbarland zu stützen.

Ebenso müssen interne Gegebenheiten, die dem idealisierten Staatsbild entgegen stehen, wie Korruption und Machtmissbrauch, kaschiert oder verschwiegen werden. Die klassischen Medien in Russland handeln inzwischen zu fast 100 Prozent in diesem Sinne.