Frankreich: Faszination für deutsche "Lösungen"

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Unregierbarkeit nach der Wahl? Die Bündnisoptionen Macrons bis hin zu Faschisten. Unwahrheiten in deutschen Medien und Beleidigungen.

Es begann mit einer doppelten Unwahrheit. Am gestrigen Mittwochabend erklärte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron in einer TV-Ansprache um 20 Uhr, er sei – in der zweiten Runde der Parlamentschaftswahl am 24. April dieses Jahres – "mit einem klaren Programm gewählt worden", um dieses auch umzusetzen.

Nun habe er allerdings, infolge des Ausgangs der Parlamentswahlen vom 12. und 19. Juni, die Nachricht vernommen: Es gebe "Spaltungen im Land" und keine politische Kraft sei allein in der Lage, sich im Gesetzgebungsverfahren durchzusetzen.

Dies trifft zu, denn das Bündnis der Macron unterstützenden Parteien, Ensemble ("Gemeinsam"), erhielt am zurückliegenden Wahlsonntag vom 19. Juni nur noch eine relative Mehrheit von 245 Sitzen und keine absolute Sitzmehrheit wie noch vor fünf Jahren. Die absolute Mehrheit läge bei 289 von insgesamt 577 Mandaten in der Nationalversammlung.

48 Stunden Zeit hätten nun die unterschiedlichen Oppositionsparteien, um sich zu positionieren und mitzuteilen, bis wohin sie mitgehen würden oder was ihre Kompromisslinien und ihre Änderungsanträge – amendements - wären. 48 Stunden, weil Staatspräsident Macron sich bis dahin auf Auslandsreise befindet.

Als noch amtierender Ratspräsident der Europäischen Union bis zum 30. Juni, danach übernimmt Tschechien, wird Macron u.a. einer EU-Ratssitzung in Brüssel beiwohnen. Dazu formulierte der konservative (derzeitige Oppositions-)Abgeordnete Gilles Platrat spöttisch, Papa sei nun für zwei Tage verreist, doch wenn er zurückkomme, sollten die Hausaufgaben gefälligst erledigt vorliegen.

Kein "klares Programm"…

Unwahr war die Ausgangsbehauptung von Emmanuel Macron jedoch in doppeltem Sinne. Denn mit einem "klaren Programm" kann er schon deswegen nicht gewählt worden sein, weil er gar keines vorgelegt hatte, übrigens weder vor der Präsidentschafts- noch vor der Parlamentswahl.

Vielmehr verweist er bereits seit Anfang Februar dieses Jahres auf internationale Dringlichkeiten – etwa seine Reisetätigkeit rund um den Ukrainekonflikt und späteren -krieg, seine ausgiebigen Telefonate mit Putin –, um sich jeglicher innenpolitischen Auseinandersetzung oder Debatte zu entziehen.

Viele innenpolitische Beobachter und Akteurinnen, übrigens in nahezu allen politischen Lagern (außer dem eigenen natürlich), verdächtigten Macron deswegen, die Wahlperiode zwischen April und Juni "zwischen die Beine zu nehmen" (enjamber) und einfach überspringen zu wollen. Bloß keine Diskussion jetzt, bitte. Es ist jetzt nicht die Zeit dafür.

... die zweite Unwahrheit und die soziale Basis ...

Auch noch aus einem zweiten Grund kann Macron nicht für (irgend) ein Programm oder eine "klare" inhaltliche Aussage gewählt worden sein. Am 24. April dieses Jahres, an dessen Abend er mit 58,5 Prozent der abgegebenen Stimmen wieder ins Amt gewählt worden war, stimmte nämlich nahezu jede/r zweite/r Wähler/in mit dem Stimmzettel unter der Aufschrift "Macron" gar nicht für ihn, sondern in erster Linie gegen die andere Kandidatin: die rechtsextreme Marine Le Pen.

Umfragen zur Wahlauswertung bezifferten den Anteil der Emmanuel Macron Wählenden, deren Hauptmotivation faire barrage ("einen Damm errichten", d.h. einen Wahlsieg der neofaschistischen extremen Rechten verhindern) lautete, auf 42 bis 47 Prozent, also eine knappe Hälfte.

Macron hatte also durchaus eine soziale Basis, doch diese machte nur ein gutes Viertel der an der Wahl Teilnehmenden im Land aus. Vor allem kann man Teile der Besserverdienenden und Gutsituierten, die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen weitgehend zufrieden sind und sich selbst als "Mitte-Links" bis "Mitte-Rechts" verorten würden, zu ihr zählen.

Übrigens kann man, jedenfalls in diesem Jahr nicht, die junge Generation dazu zählen. Die Behauptung, die hier jüngst aufgestellt wurde (Auf dem Weg zum Camembert-Faschismus?) - "Bei der Präsidentschaftswahl bekam allerdings Macron die meisten Stimmen der Jungwähler" - ist irrig.

Zwar neigte die jüngste Wählergeneration in der Vergangenheit bei manchen früheren Wahlen – so viel ist richtig – eher Macron zu, welcher noch keine vierzig war, als er 2017 erstmals in Amt gewählt wurde. Nicht jedoch 2022. In diesem Frühjahr wählten die Jungwählerinnen und Jungwähler bei der Präsidentschaftswahl weit überdurchschnittlich den Linkssozialdemokraten Jean-Luc Mélenchon, dagegen stimmten vor allem die Rentner für Macron.

…und keine Revolution

Letzterer behauptete nun am gestrigen Abend im Fernsehen, er trete für Veränderung ein und man werde bei der Gesetzgebung nun alles anders machen, habe man doch das Signal seit den Parlamentswahlen - bei denen das Macron-Lager durchfiel, wenn es darum ging, eine regierungsfähige Sitzmehrheit zu erringen – vernommen. Nun ja.

Ein Buch des damals erstmaligen Präsidentschaftskandidaten, das im November 2016 erschien, trug den Titel "Revolution". Als Garanten für tiefgreifende Veränderungen im politischen Bereich bot sich der Wirtschaftsliberale Macron damals selbst an.

Was aus dieser "Revolution" geworden sein könnte, ist unbekannt, doch hätte eine solche stattgefunden, hätte man wohl davon gehört. Natürlich wird man Macron vor diesem Hintergrund glauben, dass er nun in naher Zukunft weitreichende Veränderungen anschieben wird.

Von Deutschland lernen, heißt koalieren lernen?

Einer gewissen Faszination für "deutsche Lösungen" unterliegen nun Teile des französischen Medienbetriebs. In Deutschland, da regierten Parteienkoalitionen, führte etwa der wirtschaftsliberale – mehrheitlich eher Macron-nahe – Privatfernsehsender BFM TV seit Wochenbeginn wiederholt in Talkshows und Liveschaltungen zu seiner Berlinkorrespondentin aus.

Da gebe es Verhandlungen zwischen den Parteien und Koalitionsverträge. Unerhört. Davon könne man sich doch eventuell eine Scheibe abschneiden.

Unterschlagen wird, dass es das längst auch in Frankreich gibt, dass im Zeitraum von vor 25 bis vor 20 Jahren eine Koalitionsregierung aus mehreren Parteien Frankreich führte, die aus einer Art rosa-rot-grüner Ampel bestand und in ihrer Zusammensetzung der jetzigen Berliner Landesregierung nicht unähnlich war. Zu einer irgendwie gearteten Revolution kam es, nun ja, übrigens auch damals nicht wirklich.

Doch, ja, es gibt einen Unterschied. Zwar beruhte auch die auf drei Haupt- und zwei kleineren Parteien basierende Regierung des Sozialdemokraten Lionel Jospin (1997 bis 2002) auf einem Koalitionsvertrag. Allerdings handelten die beteiligten Parteien einen solchen vor der Stichwahl der damaligen Parlamentswahl vom 1. Juni 1997 aus, denn da in Frankreich das Mehrheitswahlrecht gilt, formieren sich die Blöcke aus miteinander mehr oder minder kompatiblen Parteien schon im Vorfeld, um gemeinsam in der Stichwahl auf ein relevantes Gewicht zu kommen – und nicht danach.

Die Stimmen derjenigen politischen Kräfte im Wahlkreis, die nicht zum jeweils stärksten politischen Block zählen, fallen nämlich unter den Tisch.

In der Bundesrepublik messen die politischen Parteien ihr jeweiliges Gewicht erst bei der Wahl, wo das Verhältniswahlrecht ein Abbild ihrer respektive zu verzeichnenden Stärke liefert, und verhandeln dann über ihre Zusammenarbeit. Doch wenn nicht die Wahlergebnisse die betreffenden Parteien zu Verrenkungen zwingt, kann man oft schon im Vorfeld ahnen oder wissen, wer mit wem koalieren dürfte. So riesig, wie behauptet, sind die Unterschiede nun also wirklich nicht.