Vom Verstand bleibt im sozialen Netz nicht viel

Warum soziale Medien uns intellektuell nicht voranbringen können. (Teil 1)

In den letzten Tagen gab es zwei bemerkenswerte Aussagen über soziale Medien: Der Schauspieler Lars Eidinger gab an, seinen Instagram-Account gelöscht zu haben, weil er "schwer abhängig" vom Medium geworden sei, was ihm schadete: "Wenn man sich diesen Müll den ganzen Tag reinzieht, dann macht das was mit einem."

Die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht wiederum übte in einem Interview Kritik an Teilen ihrer Partei, welche sich auf "kleine aktivistische Milieus konzentriert" habe "und deren Twitterblase mit der Stimmung in der Bevölkerung verwechselt." Beide drücken damit Erkenntnisse über Social Media aus, die ihren Nutzern meist nicht so klar sind.

Eine der schwerwiegensten Folgen der sozialen Medien etwa ist, dass sie aus gesellschaftlichen Kategorien Fragen des persönlichen Aktivismus macht, die sofort und möglichst noch während des Lesens beantwortet werden sollen. Das soziale Medium lässt, eben weil es ein soziales und kein intellektuelles ist, keine Zeit zum Nachdenken, geschweige denn zum Denken, Philosophieren, gedanklichen Experimentieren, sondern muss notwendig jeden Teilnehmer auf eine aktivistische Position festnageln.

Damit werden die User zu bloßen Maskottchen ihrer Selbst, die nach außen, also zur Seite der Öffentlichkeit hin keine persönliche Entwicklung mehr durchzumachen scheinen, und diese tunlichst auch vermeiden sollen: Das Maskottchen macht sich zur Marke, der User wird zur Social-Media-Ich-AG.

Netzkulturkritiker, die das Spiel längst selbst in ganzer Breite mitspielen, meinen dann etwa im Phänomen der "Influencer" und sonstigem "Abhub der Erscheinungswelt" (Hegel) das Wesen einer ökonomischen Logik zu sehen.

In dieser aber sind jene Beeinflusser, also sozialmediales Kapital Besitzenden, lediglich ein Symptom einer digitalökonomischen Tendenz, deren andere Seite sich in jenen Konsumenten ausdrückt, die sich als User für keine solchen halten, sondern als aktiv betrachten, weil sie mit kommunikativer Teilhabe geködert werden, welche lediglich eine eingebildete ist und nichts anderes bedeutet, als dass sie nun auch noch in der Freizeit ausgebeutet werden – und zwar zum Zwecke der Mehrwertproduktion jener Influencer.

Die Tätigkeit als Applaudierender am Straßenrand bei virtuellen Werbekolonnen, die von den Online-Kommentabereichen nachgebildet wird, steht nur scheinbar im Gegensatz zur Tätigkeit des Lohnabhängigen und deren Zwängen.

In dieser durch Zufälligkeit geprägten Sphäre von virtueller Begegnung und Kommentieren um des Kommentierens willen, ahmt das sozialmediale Bewusstsein des nun auch in der Freizeit zur Ware werdenden intellektuellen Users die Alltags-plauderei nach und fügt sich damit den Maßgaben des Smalltalks, wo es aber doch tiefgründig, politisch, gesellschaftlich, theoretisch diskutieren will.

Das ist der große Selbstbetrug jener Schrumpfform von Intellektualität, die sich lediglich noch innerhalb der Netzbubble-Ahnungslosigkeit als eine darzustellen vermag: Der sozialmediale Intellektuelle würdigt sich in seinen Depeschen zum Zorn getränkten Marktschreier herab, während er gleichzeitig den als minderbemittelt Vorgestellten Empörung und Marktgängigkeit vorwirft.

Wenn Versenkung, genaue Lektüre und konzentrierte begriffliche Tätigkeit die geistige Arbeit bestimmten, atmet der Netz-Intellektuelle heute befreit auf von diesen ihm längst überholt scheinenden Tugenden.

Noch ärger: Die Sozialmedien geben diesen Trubel zersplitterter Meinungsbekundungen eines selbstverschuldet fragmentierten Bewusstseins als gültigen Text aus. In der Folge greift dieses sich noch immer als intellektuell empfindende Geschwätz über in die anderen, klassischen Medien bis hin zum Buch, das einmal das Gegenteil – Versenkung und Begriff – ermöglichte.

Social Media spiegelt nicht nur verdichteter und symptomatischer die sozialen Gesetzmäßigkeiten außerhalb des Netzes wider, sondern macht auch die restliche Welt zu einem bloßen sozialen Medium, bis hinein in Bereiche, die bisher noch verschont waren. Die richtige Weise des Umgangs von Seiten des Geistes mit dem Sozialmedium kennt lediglich jene zwei Methoden, die von Eidinger und Wagenknecht angedeutet werden.

Beide beruhen auf der Gewissheit, dass man, solange es fürs Geistige, also der Förderung des entschiedenen Denkens dienlich ist, das Spiel mitspielen kann, aber dieses Mitspielen nicht nach den vorgegebenen Regeln erfolgen sollte.

Das heißt für den aufgeklärten Social-Media-Nutzer, der die Regeln unterlaufen muss, um seine Inhalte zu unterstreichen, dass er entweder pöbelt und provoziert, also "Hass im Netz" betreibt, oder das soziale Medium kategorisch als klassisches behandelt und vom kommunikativen Aktivismus absieht – was in der sozialmedialen Sphäre bereits auch als Provokation aufgefasst wird.

Geist wäre einzig noch in der Darstellung, also Performance jenes Hasses ermöglicht, der die Welt prägt und den das sozialmediale Bewusstsein scheut.

Wie derzeit über den Ukraine-Krieg in den sozialen Medien gesprochen wird, verwundert nicht weiter. Auch nicht, dass Deutsche auch außerhalb des Netzes auf die traditionelle Weise über Krieg reden.

Dass sich allerdings das schlechteste beider Welten – der sozialmedialen wie der herkömmlich (also: nichtmedialen) sozialen – vereinigt und damit die ohnehin schon unterkomplexen Standards des Diskurses noch weiter in Raunen, Behaupten und Leugnen erstickt, kann zumindest Netz-Community-Idealisten überraschen, die dem Werbetrick von luiquid democracy und Schwarmintelligenz aufgesessen sind.

Es ist dabei nahezu einerlei, auf welche Seite sich die Diskutierenden stellen; der Aktivismus des sozialmedialen Standpunktbeziehens selbst macht jede geistige Annäherung an den Gegenstand Krieg insofern zunichte, als sie noch den Kühlsten, Distanziertesten und Sachlichsten mit Schaum vor dem Mund Menschenfeindlichkeit, Empathielosigkeit oder Fünftkolonnentum vorwirft.

Gerade in der Haltung des Geistes, also der Unempörtheit, zeigt sich, liegt für die sozialmedial geprägten Zeitgenossen das Ruchlose; gerade in der Sittlichkeit der Vernunft sehen sie eine Unmoral von Unvernünftigen. Aber nicht nur die Netz-Öffentlichkeit täuscht sich über die Funktion von Intellektuellen, die Intellektuellen selbst nehmen sie nicht mehr wahr.

Im Eingedenken der goldigen Ideen von einer Medien- bzw. "Kommunikationsguerilla" (Umberto Eco) oder "medienpolitischen Ambulanzen" im Sinne des Situationismus verspräche heute einzig eine Social-Media-Guerilla-Taktik Erlösung von den unwesentlichen, längst entpolitisierten, personifizierten und bloß anlassbezogenen Moralisierungsetikettierungen der Online-Aktivisten.

Das Problem der sozialen Medien aber ist, dass sie selbst schon auf Formen von konformistisch gewendeter Medienguerilla aufgebaut sind, deren gemeinsame Nenner die Front gegen die Aufklärung ist. Den heutigen Medienguerillas wäre nahezubringen, dass ihr Konzept selbst veraltet ist und, wie nach einer gewissen Zeit alle subversiven Konzepte, nun systemstabilisierend wirkt. Tatsächlicher Aktivismus kann im Social-Media-Zeitalter nur einer sein, der als solcher nicht erkennbar ist, sondern als Selbstverständlichkeit daher kommt.

Dem affirmativen Aktivismus der Gegenaufklärung, der Nichtdenkenden und Guteswoller des Netzes wäre daher zu entgegnen mit einem Antiaktivismus, der aber auf der Ebene der sozialen Medien ambivalent bleiben muss, also den Zweifel hervorruft, ob es sich um Guerilla oder den sogenannten Ernst handelt.

Solchem Aktivismus müsste anzusehen sein, dass er seine außermedialen politischen, also inhaltlichen Folgerungen auch auf die formale Ebene der Medien anzuwenden weiß: denn wo jemand einen Inhalt vertritt und von diesem, selbst überzeugt, andere überzeugen will, muss das auch in der entsprechenden Form geschehen, wenn es die beabsichtigte Wirkung haben soll.

Die Formen in den sozialen Medien nun verändern sich sehr schnell, und zügiger als das Pausenhofgeplapper: Memes, die etwa vor zwei Jahren noch subversives Pozential hatten, waren schon ein Jahr später nur noch linksliberale Massenerscheinung und sind heute, weitergereicht durch Leute wie Jan Böhmermann und andere Comedy-Staatsapparate, vollends reaktionäres Verblödungsinstrument geworden. (In drei Jahren werden sie dann von den Kulturtheoretikern auf Facebook entdeckt und "ironisch" angeeignet – so läuft das jetzt seit Jahren. Was bims das für 1 life?)

Es ist der Zusammenhang, der hier die Form – und damit den politischen Gehalt – definiert, nicht der gute Wille zum Trend. Guerillas wussten immer taktisch mit solchen Zusammenhängen umzugehen, was einen Gutteil ihrer Unvorhersehbarkeit ausmachte.

In einer Zeit aber, in der die Reflexion auf den Gesamtzusammenhang nicht bloß verlernt, sondern sogar unerwünscht, weil schädlich für den Moral- und Nettigkeitsstandort Deutschland ist, wurde aus der Guerilla-Not eine Tugend, die am besten beherrscht, wer mit den Zuständen einverstanden sind.

Die allgemeinen Regeln des Spiels "Social Media" bewirken, dass im Netz Öffentlichkeitsherstellung nur noch möglich ist für Aktivisten – rechte wie linke, solche von oben und solche von unten. Im Online-Aktivismus selbst liegt schon der Keim des Antiintellektualismus, der Geist- und Gedankenfeindlichkeit, der veritablen Hetze zum Zwecke der Herdenvergrößerung.

Das schwerwiegendste und für die Aufrechterhaltung von Verdummung und bürgerlicher Herrschaft bedeutendste ist dabei die vorgetäuschte Unmittelbarkeit der sozialen Medien: obwohl als Medien bezeichnet, werden sie nicht mehr als solche begriffen, sondern als nichtvermittelt, unmittelbare, authentische aufgefasst.

Das führt zur Unterscheidungs-Unfähigkeit zwischen Wirklichem (also Unmittelbarem) und Medium (bloßer Vermittlung von Wirklichem); Wirkliches und Medium werden im sozialmedialen Bewusstsein eins; die Folge ist eine nur noch aktivistische, seelische, durch persönliche Höflichkeiten oder Antipathien bestimmte, also verzerrte, weil unzusammenhängende, unbegriffliche Wahrnehmung der Welt.

Den wohl für immer im Jargon der 1970er-Jahre hängengebliebenen trotzkistischen Parolendrescher und den sich diesem in seiner akademischen Reflektiertheit überlegen dünkenden antiantiimperialistischen Ideologiekritiker unterscheidet im Medium der Timeline nichts mehr.

Die Timeline, ein dem Subjektivismus und der Zufälligkeit unterliegender Nachrichtenticker, erscheint als etwas Objektives, von dem der User annimmt, es spiegele und vermittele die Welt, obwohl es nur sein eigenes, algorithmisch reproduziertes Bild von ihr wiedergibt.

In ihrem wesentlichen Zug gleichen sich also alle nach den vorgegebenen Regeln aktiv kommentierenden User einander an: sie halten einen Irrtum für eine Plattform und eine Schimäre für ein Abbild.

Wie sich die Twitter-User in ihrer memigen Stummelsprache formal so angeglichen haben, dass inhaltlich keine Unterschiede mehr zu erkennen sind, ergehen sich die Facebook-Nutzer in dem Wahn, ausgerechnet auf ihren persönlichen 20.000-Zeichen-Drunterkommentar im von sieben Leuten gelesenen Kriegs-Thread käme es an. Beide erfüllen damit die gewünschte Funktion: Bewusstlosigkeit durch Überteilhabe am unwirksamen Diskurs über Unwirkliches.

Nicht, weil solche Online-Intellektuellen dieselben politischen Ansichten hätten, gleichen sie sich an und verkörpern die sozialmediale Gosse, sondern trotz ihrer vermeintlich konträren Positionen, weil sie das Medium auf gleiche Weise bespielen, nämlich bloggend, also das Sozialmedium und seine Logik als solche affirmierend – und damit jeweils den aktivistischen Bubble-Fragmentarismus mit hochzüchten, dessen Fluchtpunkt nur Welt- und damit Begriffslosigkeit sein kann.

Die Logik der Timeline macht sie, die sich für politische Intellektuelle halten, zu bloßen Unterhaltungs-Kleinkünstlern, die mit szenegerechten Textbausteinen inklusive der passenden Buzzwords eine Art intellektuelles Tierreich bedienen, das nicht mal mehr Ideologie (re-)produziert, sondern nur noch die ewig gleichen Diskussionen zwischen den ständig selben Usern provoziert.

In solchem Kommentarbereichs-Aktivismus und der dazugehörigen Ideologeme gehen sowohl die Realität als auch die ihr angemessenen Begriffe verloren – das Sozialmediale erreicht einen Bewusstseinsstand, der die Unwahrheit als Redlichkeit über die realen Verhältnisse zu akzeptieren bereit ist. Wo alle dabei sind, ist keiner anwesend, wo jeder redet, denkt keiner mehr: Die Bubble-Diskussion macht selbst den gelehrtesten Intellektuellen zum Suppenkasper.

Damit aber gleichen sie sich aber doch auch politisch, inhaltlich an: denn selbstverständlich ist solches Formale, also die Art der Vermittlung selbst ein Politikum und sagt selbst etwas über die Behandlung von Inhalten aus.

So ist es dann am Ende egal, was der jeweilige Sozial-Media-Blindtext an politisch-agitatorischen Markierungen enthält, die Leute, die sich dort ins Vernehmen setzen, die sich selbst vermitteln, statt die Welt vermittelt zu bekommen, können notwendig nicht zu welthaltigen Begriffen kommen, sondern nur zu solchen Beobachtungen, die im jeweiligen Milieu als welthaltig gelten.