"Reicht denn das Leid der Menschen nicht aus?"

Charkiw, Juni 2022. Foto: National Police of Ukraine/CC BY 4.0

Jörg Becker über die politische Rolle von Medien und PR-Arbeit sowie das alte russische Feindbild (Teil 2)

Prof. Dr. Jörg Becker ist Experte für Kommunikations- und Propagandaforschung. In seinem langjährigen Wissenschaftlerdasein, das ihn an internationale Universitäten rund um den Globus führte, hat er unter anderem wichtige Bücher zur Kriegspropaganda herausgegeben – wie 2008 zusammen mit Mira Beham "Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod" und 2016 "Medien im Krieg – Krieg in den Medien".

Im Interview mit Telepolis gibt Becker instruktive Einsichten in das Verhältnis von PR und Journalismus in Konflikten.

Können Sie ein anschauliches Beispiel für die Arbeit einer konkreten PR-Agentur in den Balkankriegen nennen, damit das für uns etwas plastischer wird?

Jörg Becker: Tja, am meisten ist mir in den Balkankriegen die US-amerikanische PR-Agentur Ruder Finn aufgefallen. Ich sage zwei Beispiele, warum sie mir aufgefallen ist: Erstens, weil diese Agentur es im Gegensatz zu den internationalen Ethikregeln der PR-Verbände fertiggebracht hat, zwei miteinander verfeindete Regierungen, die im Krieg gegeneinanderstanden, mit unterschiedlichen PR-Verträgen gleichzeitig zu bedienen. Das ist schon ein starkes Stück.

Die Ethikrichtlinien der weltweiten PR-Verbände verbieten genau dieses oder legen das nahe. Eine Ethik kann nicht verbieten, sie macht Empfehlungen: Kontrahenten gleichzeitig zu bedienen, das geht eigentlich nicht.

Aber das inhaltlich drastischste Beispiel, das ich aus diesen Balkankriegen erinnern kann und was wir aufgedeckt haben, war, dass Ruder Finn einen Riesenerfolg in den USA einheimsen konnte, indem die Agentur mit drei großen jüdischen Organisationen Kontakt aufgenommen hatte: das Amercian Jewish Committee, den Amercian Jewish Congress und die Anti-Defamation League.

Und man muss wissen, dass diese drei Lobbygruppen in den Vereinigten Staaten ein enormes innenpolitisches Gewicht haben. Ruder Finn schaffte es, dass diese drei jüdischen Verbände eine ganzseitige Anzeige in den New York Times aufgegeben haben, wo sie in Bezug auf die Massaker auf dem Balkan einen Vergleich mit Auschwitz brachten.

Nun wissen wir alle, dass es wohl keine schlimmere Verunglimpfung eines politischen Gegners gibt, als wenn man ihn mit Auschwitz gleichsetzt. Also die Gleichsetzung war: Die Serben sind die gleichen Täter, die früher mal Ausschwitz gemacht haben. Das ist eine Ungeheuerlichkeit gewesen – diese Anzeige – und der frühere Chef von Ruder Finn betrachtete genau diese Anzeige in eigenen schriftlichen Stellungnahmen als das Meisterstück seiner PR, was er in seiner Lebensgeschichte hingelegt habe.

Heißt das, dass man eigene Grundsätze aufgab? Ich meine, die jüdischen Verbände beispielsweise würden doch normalerweise sofort aufschreien, wenn jemand Vergleiche zum Holocaust zieht und damit Nazi-Verbrechen relativiert. Wieso gibt man das Pfund hier auf? Und ist es Zufall, dass der damalige Außenminister, Joschka Fischer, dann mit "Nie wieder Auschwitz!" bei den Grünen für den ersten Bundeswehreinsatz werben konnte?

Jörg Becker: Nein, natürlich gibt es den Zusammenhang. Wir haben mehrere Fotocollagen aus dem Balkankrieg, mehrere Fotos, wo man meint, die seien echt, die seien authentisch; wo man ausgemergelte Gefangene sieht mit Stacheldraht im Bild. Diese Bilder sind seit langem von einer Reihe von Spezialisten gut erforscht worden und waren natürlich auch visuelle Kernbotschaften, um die Auschwitzmetapher sozusagen bildhaft auf den Balkankrieg zu übertragen.

Ich mache ein weiteres Beispiel: Die deutsche Menschenrechtsorganisation "Gesellschaft für bedrohte Völker" hat mit einer großen PR-Aktion nach Beendigung des Krieges die Mütter von Srebrenica in zwei oder drei Bussen zu einem Besuch nach Buchenwald eingeladen.

Die Lagerleitung in Buchenwald hat die Delegation nicht akzeptiert: Auch hier sollte natürlich eine Verbindung hergestellt werden: Serben sind wie die damaligen Faschisten, Serben sind mit den Nazis zu vergleichen. Das sind absichtliche, ich will nicht sagen untereinander abgesprochene, aber sozusagen zeitgleiche, koordinierte Aktionen gewesen.

Jetzt muss ich mal eine ketzerische Frage stellen: Warum macht man das? Reicht denn das Leid der Menschen nicht aus? Würde man denn nicht grundsätzlich die Kriegsopfer unterstützen?

Jörg Becker: Gute Frage, und die kann ich nur zum Teil beantworten. Bei einer Menschenrechtsorganisation – egal welcher – tragen solche Aktionen natürlich dazu bei, den Aufmerksamkeitswert, den Wichtigkeitswert der eigenen Organisation zu stützen.

Ich füge ein zweites Argument hinzu: Solche NGOs in Deutschland finanzieren sich über Spendengelder. Der Spendenmarkt in Deutschland stagniert seit Jahren, er ist hart umkämpft und du brauchst Aufmerksamkeitsaktionen, um den Spendentopf wieder zu füllen. Sorry, so simpel und banal ist das Ganze.

Mir fällt jetzt das Buch "Die Mitleidsindustrie" ein, aber die NGO-Frage würde ich hier gerne ausklammern. Aber die Frage bleibt, wie notwendig oder überflüssig ist diese Art von PR oder auch Eigenwerbung eigentlich?

Jörg Becker: Das ist schwer zu beurteilen. Wir kommen jetzt in Fragen hinein: Wie bemisst man Effektivität von Werbung oder PR-Maßnahmen? Und da sind wir empirisch auf ganz dünnem Eis. Das ist auch schwierig zu messen. Du bräuchtest abgestimmte Untersuchungseinheiten, Du bräuchtest festgelegte Zeiträume, du bräuchtest ein klar identifiziertes Zielpublikum.

All das ist bei der Messung solche Sachen schwierig. Ich kann an der Stelle nur mit mehr allgemeinen Antwort aufwarten, die mich selber nicht befriedigt. Es wird so etwas wie eine Art Gemeinschaft – ich benutze absichtlich dieses eigentlich belastete Wort – es wird eine Gemeinschaft aller Betroffenen konstruiert, so dass du innenpolitisch Ruhe bekommst für Regierungsverhalten.

Ein schwieriges Problem wird das, wenn du eine PR-Agentur bist und sozusagen eine Regierung zu vertreten hast, die nachweislich Kriegsverbrechen begeht, dann bist du als Agentur in einer sehr ungünstigen Position und du kannst offen diesen Kampf in der Öffentlichkeit fast nicht gewinnen.

Das dürfte gegenwärtig das Problem von Russland sein. Das war selbstverständlich im Balkankrieg das Problem von Serbien. Und Serbien hat unheimlich starke Versuche gemacht, amerikanische Agenturen für sich zu gewinnen und hat kaum Erfolg gehabt auf dem Gebiet.

Das Anprangern tatsächlicher oder auch vermeintlicher Kriegsverbrechen, wie die berühmte Brutkastenlüge der Agentur Hill & Knowlton, operiert gezielt mit Fake-News zu Propagandazwecken. Bei Aspect Consulting im Georgien Krieg 2008 war das etwas anders. Da ging es mehr um Highlighting und Hiding (Zeigen und Ausblenden= von Fakten und Abläufen). Woran kann man frühzeitig erkennen, dass es sich um PR handelt? Und zwar nicht erst nach dem Krieg?

Jörg Becker: Ich würde ganz gerne das Beispiel Georgien aufgreifen, weil es an Absurdität eigentlich nicht zu überbieten ist. In Georgien – und wir sprechen über den Georgienkrieg 2008 – gibt es folgende absurde Situation: Innerhalb von Georgien gibt es eine Reihe von politischen Brüchigkeiten, Unruhen, es gibt scharfe Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen politischen Parteien in Georgien; auf der einen Seite einen Präsidenten Michail Saakaschwili, der sehr stark von der amerikanischen Regierung unterstützt wird, und mit Salome Surabischwili hast du eine sehr starke Oppositionskandidatin.

Also das Land ist in innerer Zerspaltenheit und Unruhe. In dieser Situation werden zwei belgische PR-Agenturen mit Sitz in Brüssel aktiv. Und das Absurde daran ist, dass die eine Agentur Saakaschwili – also die Regierung in Georgien – berät und die andere Agentur die Regierung in Russland. Das Absurde daran ist – ich habe das nachgemessen bei Google Maps – die liegen im selben Stadtviertel in Brüssel, über 200 Meter voneinander entfernt und beide sind in den Unruhen und dem dann ausbrechenden Krieg 2008 involviert und machen nichts anderes als ihre PR-Botschaften, die sie in ihren Computer dort reinhacken, dann um die ganze Welt schicken.

Die eine war Aspect, die Sie schon genannt hatten, und die andere hieß GPlus, die für Russland tätig war und inzwischen ihre Tätigkeit in Deutschland eingestellt hat. Interessanterweise arbeitete für Gplus die FDP-Dissertationsbetrügerin Silvana Koch-Mehrin.

Lassen sie mich auf den Punkt kommen. Der Punkt ist, dass ganz klar die georgische Seite mit der Agentur Aspekt über sehr viel mehr Mittel verfügte und sehr viel effektiver arbeitete als die Agentur, die für Russland gearbeitet hat. Aspect hatte zu dieser Zeit 2008 allein in Tiflis zwanzig Mitarbeiter, die zwei oder drei Pressekonferenzen pro Tag gaben.

So, und damit erschlägst du die Medien. Du kannst dich dem Angebot einer Pressekonferenz eigentlich nicht entziehen. Du musst hingehen, du wirst gefüttert. Du hast keine Zeit, die Fütterung durch journalistische Recherche nachzukontrollieren, weil dann schon die nächste Pressekonferenz kommt.

Und in diesem Tohuwabohu, wo drei oder vier Texte pro Tag produziert wurden, war ganz klar in der internationalen Presse – und ich habe das ausgewertet – das Ergebnis eindeutig folgendes: Der grausame, große russische Bär erdrückt und überfällt eine kleine, Freiheit liebende Demokratie. Das war die Message, die Aspect erfolgreich um den Globus geschickt hat.

War es dann eher Zufall, dass der Krieg im Windschatten der Eröffnung der olympischen Spiele in Peking begann oder war das auch eine gezielte PR-Strategie? Jedenfalls hatte die Berichterstattung ja nicht sofort eingesetzt, wie auch in später in den Tagesthemen einmal erörtert wurde.

Jörg Becker: So ja, jetzt kommt was hinterher. Zwei Jahre später hat die EU Kommission in einmaliger Art und Weise – das hat sie weder vorher noch nachher getan – die Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini beauftragt, einen Kriegsursachenbericht anzufertigen über diesen Georgien-Krieg. Man wünschte sich mehr solche Berichte!

Also, ein Kriegsursachenbericht wurde durch eine hochrangige Diplomatin angefertigt – ein zweibändiges dickes Werk. Und wir finden in diesem zweibändigen Werk den eindeutigen Satz: "Der russisch-georgische Krieg wurde von georgischer Seite angefangen." Der steht dort drin. Nun sehen wir, dass solche Wissenschaftsberichte überhaupt nichts ändern.

Wir wissen, dass Georgien angefangen hat und sind nach wie vor bei dieser Botschaft hängengeblieben – auch gegenwärtig: "Großer russischer Bär erdrückt kleine freiheitsliebende Demokratien." Wir kommen über diesen Satz anscheinend nicht hinaus.