Mit dem Neun-Euro-Ticket über Bad Kleinen

Bad Kleinen, Bahnhof, Bahnsteig 3/4. Archivbild von 2008: Global Fish/CC BY-SA 3.0

Über die Willkürlichkeit des Augenblicks: Ein Durchkommen ist nur durch das halbleere Abteil der ersten Klasse möglich.

Abfahrt 11:24 Uhr von Gleis 14, RE nach Wismar. Um 11:32 Uhr ist der Zug immer noch nicht eingefahren, immerhin wird inzwischen eine 15-minütige Verspätung angekündigt. Und direkt hinterher die Ankündigung über den Ausfall des ICEs nach Hamburg, der am selben Gleis hätte abfahren sollen.

Vor mir schütteln zwei Frauen fassungslos den Kopf. Das ist schon der zweite ICE, der ersatzlos gestrichen wird. Es ist Freitag, der 3. Juni, vom gegenüberliegenden Bahnsteig macht eine Frau ein Video von uns. Wir, das bin die Menschenmenge und ich, die auf Gleis 14 dicht aneinander gedrängt Platz zu finden versucht.

Durch das Glasdach des Berliner Hauptbahnhofs knallt die Sonne und der Mann neben mir meint, dass man es heute nicht mal aufs schlechte Wetter schieben könne. Dann muss ich lossprinten: Der RE fährt jetzt doch von Gleis 11. Und mit mir setzt sich der Rest der Menschenmenge in Bewegung.

Im Zug sitzen die Leute auf der Treppe oder stehen, ein Durchkommen ist nur durch das halbleere Abteil der Klasse 1 möglich. Trotzdem muss ich einer Tasche ihren Sitzplatz streitig machen - der Taschenbesitzer denkt gar nicht daran nachzugeben. Wo soll er denn dann seine Beine hinstellen?

Ich will sagen, dass ich ja meine Beine auch um und auf und um meinen Rucksack herum platzieren muss, wie eigentlich alle Menschen in dem Abteil, aber stattdessen sage ich: "Der Zug ist wirklich sehr voll." Schließlich macht er Platz, nicht ohne laut zu stöhnen und sein Territorium zu markieren, in dem er mir seine Knie in die Seite drückt. Im Whatsapp-Chat beschwert er sich über seine Nebensitzerin, die doch, Zitat, einfach wieder aussteigen soll, wenn es ihr zu voll ist.

Ich schaue mich um: Ein Junge, der keinen Sitzplatz mehr gekriegt hat, löst in Rekordgeschwindigkeit einen Zauberwürfel und wird dafür von den Umsitzenden gelobt, eine Frau mir gegenüber liest "Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft" von Christina Bernd. Zufällig treffen sich zwei Arbeitskolleginnen. Die eine ist auf dem Weg zu ihren Schwiegereltern, die andere auf dem Weg in die Therme. "Bei dem warmen Wetter?", fragt die Erste. "Ui, Schwiegereltern?", fragt die Zweite.

Hinter mir sitzt eine Gruppe junger Männer – oder sind es Jugendliche? - die mit jedem Dosenbier lauter werden. Den einen Sitzplatz, den sie ergattert haben, teilen sie sich paritätisch. Alle 20 Minuten klingelt der Wecker und ein anderer darf sich setzen.

Sie sind auf dem Weg nach Sylt. "Klar hab ich Kondome dabei, Alter." "Ist es erlaubt, am Strand zu ficken?" "Nee, das fällt unter Erregung öffentlichen Ärgernisses, Dude. Steht hier."

"Stellt euch vor, jetzt furzt einer!" "Boah, gerade lohnt es sich ja übelst Züge zu taggen." Dann singen sie: "Ich bau dir ein Schloss aus Sand, irgendwie irgendwo irgendwann..." Als eine Frau mit ihrer zweijährigen Tochter an ihnen vorbeiläuft - "winke winke" - werden die Jungs plötzlich ganz ruhig und grüßen artig zurück. Der Kleinen sei furchtbar langweilig, meint die Mutter. Immerhin weint sie jetzt nicht mehr.

Ich werde das Gefühl nicht los, mich auf einer Klassenfahrt zu befinden.

Bad Kleinen

Bad Kleinen erreichen wir mit zehn Minuten Verspätung, trotzdem habe ich eine halbe Stunde Aufenthaltszeit und telefoniere mit meiner Mutter, um zu hören, ob wir uns pünktlich in Lübeck treffen: "Du bist in Bad Kleinen? Da war doch 1993 diese Schießerei mit dem RAF Terroristen, eine ganz üble Geschichte." Ich bin Jahrgang 90, 1993 war ich knapp drei Jahre alt. Bei meiner Mutter bricht die Verbindung weg, sie sitzt noch im Zug. Also suche ich im Internet. Tatsächlich.

Am 27. Juni 1993, auf dem Rückweg von einem Kurzurlaub, trafen sich Birgit Hogefeld und Klaus Steinmetz mit Wolfgang Grams und mutmaßlich Daniela Klette und Ernst-Volker Staub ausgerechnet hier, in Bad Kleinen, zum Mittagessen im sogenannten Billard-Café, das es heute laut Google Maps nicht mehr gibt. Dabei wussten Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams nicht, dass ein GSG-9-Einsatzkommando auf den richtigen Moment zum Zugreifen wartete.

Heute deutet nichts in Bad Kleinen darauf hin, dass es 1993 am Bahnhof zu einer Schießerei gekommen ist, bei der Wolfgang Grams den Polizisten Michael Newrzella und dann sich selbst erschoss (oder erschossen haben soll?), und die später nicht nur einen Medienskandal, sondern auch eine Staatsaffäre ausgelöst hat.

Dafür erinnert am Bahnhofsausgang eine Gedenktafel an die Gefallenen aus dem Ersten Weltkrieg. Und schräg gegenüber, gleich am Anfang der Dorfstraße, die Richtung Kegelbahn führt, gibt es ein Restaurant, das Chicken-Nuggets und Fleischspieße für je sieben Euro anbietet. Während Birgit Hogefeld festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, gelang es Daniela Klette und Ernst-Volker Staub zu fliehen und bis heute unterzutauchen.

Ich gehe weiter in die Hauptstraße und gelange zur Post, die ihren eigenen ausgewiesenen Parkplatz für den Bürgermeister hat und daneben einen Schaukasten für Touristen, der für den Wildpark Mecklenburg-Vorpommern wirbt und für das Kalkhorster Dorf- und Sportfest am 25. Juni.

Als ich im Zug Richtung Lübeck sitze, überlege ich, wie Daniela Klette die letzten 27 Jahre verbracht hat, ständig darauf bedacht, nicht geschnappt zu werden. Das letzte Fahndungsfoto von ihr ist aus den Jahren 1984 -1989, darauf zu sehen eine junge Frau, die in die Kamera lächelt. Inzwischen ist sie 64 Jahre alt.

Für Hinweise, die zu einer Verhaftung führen, hat das Geldtransportunternehmen 80.000 Euro Belohnung ausgesetzt. Ich frage mich, was ein Leben im Untergrund von einem Leben im Gefängnis unterscheidet. Auf jeden Fall der Blick aus dem Fenster nach dem morgendlichen Aufstehen. Mein Blick aus dem Fenster zeigt mir vorbeirauschende Mohnfelder.

"Ob ich zur schreibenden Zunft gehöre?", fragt mich mein neuer Nebensitzer. Wahrscheinlich, weil ich seit einer knappen halben Stunde in mein Notizbuch kritzle. "Ja, auch. Aber leben kann ich nicht davon." Wir unterhalten uns übers Schreiben, übers Reisen und schließlich über das Neun-Euro-Ticket.

"Wenn man schreibt, sind doch fünf Stunden Zugfahrt kein Ding, oder? Da hat man's ja nicht eilig, kann einfach beobachten, Eindrücke sammeln, nachdenken." Und mit Leuten ins Gespräch kommen. Und Orte besichtigen, die sonst für immer bedeutungslose Flecken auf einer Landkarte bleiben würden. Ja, denke ich. Stimmt.