"Papiertiger Russland" und "Doppelmoral gegenüber Washingtons Kriegsverbrechern"

Vor dem Krieg: Wladimir Putin spricht mit Joe Biden per Videoschalte. Der Angriff auf die Ukraine ist kriminell, sagt Chomsky, die Militarisierung im Westen falsch und die einseitige Empörung heuchlerisch. Bild: Presidential Executive Office of Russia / CC BY 4.0

Noam Chomsky sagt: Willkommen auf dem Science-Fiction-Planeten. Er zeigt, wie George Orwells Doppeldenk-Strategie den Ukraine-Krieg eskaliert und die Rüstungskassen füllt.

Noam Chomsky analysiert im Interview die Entstehung des Ukraine-Kriegs, die Doppelmoral angesichts von "Kriegsverbrechern, die in Washington herum spazieren", die Instrumentalisierung des "Papiertigers" Russland, um militärisch aufzurüsten. Außerirdische würden uns, wenn es sie gäbe, als "völlig verrückt" ansehen.

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik in den USA, politischer Dissident und einer der meist zitierten Intellektuellen. Er hat rund 150 Bücher verfasst.

Das Interview führt der Journalist, Buchautor und Produzent von Alternative Radio David Barsamian. Es erschien zuerst auf dem US-amerikanischen Online-Magazin TomDispatch.

Kommen wir zum offensichtlichsten Alptraum dieser Zeit, dem Krieg in der Ukraine und seinen weltweiten Auswirkungen. Doch zunächst ein wenig Hintergrund. Beginnen wir mit der Zusage von Präsident George H.W. Bush an den damaligen sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow, dass sich die Nato "keinen Zentimeter nach Osten" bewegen würde – und diese Zusage wurde bestätigt. Warum hat Gorbatschow sich das nicht schriftlich geben lassen?

Noam Chomsky: Er akzeptierte ein Gentleman's Agreement, was in der Diplomatie nicht so ungewöhnlich ist. Man schüttelt sich die Hand. Außerdem hätte es überhaupt keinen Unterschied gemacht, wenn es auf dem Papier gestanden hätte. Verträge, die auf dem Papier stehen, werden immer wieder zerrissen. Was zählt, ist guter Glaube.

Und in der Tat hat H.W. Bush, der erste Bush, das Abkommen ausdrücklich eingehalten. Er strebte sogar eine Partnerschaft für den Frieden an, die die Länder Eurasiens einbeziehen sollte. Die Nato würde nicht aufgelöst, aber an den Rand gedrängt werden. Länder wie z. B. Tadschikistan könnten beitreten, ohne formell Teil der Nato zu sein. Und Gorbatschow war damit einverstanden. Es wäre ein Schritt in Richtung eines, wie er es nannte, gemeinsamen europäischen Hauses ohne Militärbündnisse gewesen.

Auch Clinton hat sich in seinen ersten Jahren daran gehalten. Die Fachleute sagen, dass Clinton etwa 1994 begann, wie sie es ausdrücken, unterschiedliche Signale auszusenden. Zu den Russen sagte er: Ja, wir werden uns an das Abkommen halten. Der polnischen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten und anderen ethnischen Minderheiten sagte er: Macht euch keine Sorgen, wir werden euch in die Nato einbinden.

Etwa 1996-97 sagte Clinton dies ziemlich explizit zu seinem Freund, dem russischen Präsidenten Boris Jelzin, dem er 1996 zum Wahlsieg verholfen hatte. Er sagte zu Jelzin: Drängen Sie nicht zu sehr auf diese Nato-Sache. Wir werden sie erweitern, ich brauche die Erweiterung wegen der ethnischen Wählerschichten in den Vereinigten Staaten.

1997 lud Clinton die so genannten Visegrad-Länder - Ungarn, die Tschechoslowakei und Rumänien - zum Nato-Beitritt ein. Den Russen gefiel das nicht, aber sie machten nicht viel Aufhebens davon.

Dann traten die baltischen Staaten bei, und wieder war es dasselbe. Im Jahr 2008 lud der zweite Bush, der ganz anders als der erste war, Georgien und die Ukraine in die Nato ein. Jedem US-Diplomaten war klar, dass Georgien und die Ukraine rote Linien für Russland darstellen. Es duldete die Expansion anderswo, aber diese Länder liegen in ihrem geostrategischen Kernland, und sie werden eine Expansion dort nicht dulden. Um die Geschichte fortzusetzen: 2014 fand der Maidan-Aufstand statt, bei dem der prorussische Präsident abgesetzt wurde und die Ukraine sich dem Westen annäherte.

Ab 2014 begannen die USA und die Nato, die Ukraine mit Waffen zu versorgen – mit modernen Waffen, militärischer Ausbildung, gemeinsamen Militärübungen und Maßnahmen zur Integration der Ukraine in das Militärkommando der Nato. Das ist kein Geheimnis. Es war ganz offen. Kürzlich prahlte der Generalsekretär der Nato, Jens Stoltenberg, damit. Er sagte: Das ist es, was wir seit 2014 getan haben.

Es ist natürlich eine sehr bewusste, starke Provokation. Sie wussten, dass sie sich in einen Bereich einmischten, den jeder russische Führer als untragbar ansah. Frankreich und Deutschland legten 2008 ihr Veto ein, aber auf Druck der USA wurde es auf der Tagesordnung belassen. Und die Nato, d. h. die Vereinigten Staaten, beschleunigten die faktische Integration der Ukraine in das Militärkommando der Nato.

2019 wurde Wolodymyr Selenskyj mit einer überwältigenden Mehrheit – ich glaube, etwa 70 Prozent der Stimmen – auf einer Friedensplattform gewählt, einem Plan zur Umsetzung des Friedens mit der Ostukraine und Russland, um das Problem zu lösen.

Er begann, sich dafür einzusetzen, und versuchte tatsächlich, in den Donbass, die russisch geprägte Ostregion, zu gehen, um das so genannte Minsk-II-Abkommen umzusetzen. Es hätte eine Art Föderalisierung der Ukraine mit einer gewissen Autonomie für das Donbass bedeutet, was sie wollten. So etwa wie die Schweiz oder Belgien. Er wurde von rechten Milizen blockiert, die ihm drohten, ihn zu ermorden, wenn er seine Bemühungen fortsetzt.

Nun, er ist ein mutiger Mann. Er hätte weitermachen können, wenn er die Unterstützung der Vereinigten Staaten gehabt hätte. Die USA weigerten sich. Keine Unterstützung, nichts. Das bedeutete, dass er auf dem Trockenen sitzen blieb und sich zurückziehen musste. Die USA waren fest entschlossen, die Ukraine Schritt für Schritt in das militärische Kommando der Nato zu integrieren. Das hat sich nach der Wahl von Präsident Joe Biden noch beschleunigt.

Im September 2021 konnte man es auf der Website des Weißen Hauses nachlesen. Es wurde nicht darüber berichtet, aber die Russen wussten es natürlich. Biden kündigte ein Programm an, eine gemeinsame Erklärung zur Beschleunigung des Prozesses der militärischen Ausbildung, militärischer Übungen, mehr Waffen als Teil dessen, was seine Regierung ein "erweitertes Programm" der Vorbereitung auf die Nato-Mitgliedschaft nannte.

Im November wurde der Prozess weiter beschleunigt. Das war alles vor der Invasion. US-Außenminister Antony Blinken unterzeichnete eine so genannte Charta, die diese Vereinbarung im Wesentlichen formalisierte und erweiterte. Ein Sprecher des Außenministeriums räumte ein, dass sich die USA vor der Invasion weigerten, über russische Sicherheitsbedenken zu sprechen. All dies ist Teil des Hintergrunds.

Am 24. Februar marschierte Putin ein, eine kriminelle Invasion. Die Provokationen bieten keine Rechtfertigung dafür. Wenn Putin ein Staatsmann gewesen wäre, hätte er etwas ganz anderes getan. Er wäre auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zugegangen, hätte seine zaghaften Vorschläge aufgegriffen und sich um eine Annäherung mit Europa bemüht, um Schritte in Richtung eines gemeinsamen europäischen Hauses zu unternehmen.