Bahnt sich im ukrainischen Saporischschja eine Atomkatastrophe an?

Kernkraftwerk Saporischschja. Bild: Ralf1969 / CC-BY-SA-3.0

Beide Kriegsparteien beschuldigen sich gegenseitig und spielen mit dem Feuer. Zur Diskussion über die Gefahr gehört die Einschätzung: "Die Atomkraft ist tot." Ein Kommentar.

Nun hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj angesichts des Beschusses des großen ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja vor einer Situation wie in Tschernobyl gewarnt:

Die Welt sollte Tschernobyl nicht vergessen und sich daran erinnern, dass das Atomkraftwerk Saporischschja das größte in Europa ist.

Er erinnerte daran, dass im ukrainischen Tschernobyl ein Reaktor explodiert ist, Saporischschja allerdings sogar über sechs Reaktoren verfügt, womit es zu einer ungleich größeren Katastrophe kommen könnte.

Der Vergleich von Selenskyj ist sachlich unsinnig, politisch auf Effekte gezirkelt. Es ist ein großer Unterschied, ob es zu einem Supergau kommt, weil eine geplante Abschaltung des Reaktors unter schwerwiegenden Verstößen gegen die Sicherheitsvorschriften vorgenommen wird oder man laufende Atommeiler mit Raketen beschießt.

Was der ukrainische Präsident nicht erklärt, ist, wer für den Raketenbeschuss, bei dem die Anlage beschädigt wurde, verantwortlich ist. Mindestens einer der sechs Reaktoren musste heruntergefahren werden. Es ist offensichtlich, dass im Umfeld der Atomanlage gekämpft wird, aber es ergibt nicht wirklich Sinn, dass Russland sich selbst beschießt, auch wenn das immer wieder nahegelegt wird, wie etwa in Berichten der Tagesschau.

Die Frage lautet: Warum sollten russische Streitkräfte, die das Gelände schon seit März kontrollieren, sich selbst mit Raketen beschießen? Allerdings, das sei auch gesagt, ist ein solcher Vorgang nicht vollends auszuschließen. Es kann sich um einen Fehler handeln oder Russland könnte damit versuchen, den Druck auf den Westen mit Warnungen vor einer großen Reaktorkatastrophe zu erhöhen.

Dass Russland offenbar nun aber einer internationalen Inspektion zugestimmt hat, spricht eher gegen letzteres Szenario. Offen bleibt, ob es zur Inspektion kommt und welche Ergebnisse sie an den Tag bringen kann. Gegen das Szenario des russischen Raketenbeschusses spräche, dass Russland die Flugabwehr um das Atomkraftwerk verstärkt hat, um Raketen abfangen zu können.

Offensichtlich ist, dass Selenskyj die kritische Situation zu nutzen versucht, um seinerseits den Druck zu erhöhen. Obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Ukraine die Raketen auf das Atomkraftwerk abgefeuert hat, fordert Selenskyj – erneut – weitere Sanktionen gegen Russland:

Nötig sind neue Sanktionen gegen den terroristischen Staat und die gesamte russische Atomindustrie wegen der Schaffung der Gefahr einer atomaren Katastrophe.

Neu sind die Vorwürfe nicht. Schon im März warf Selenskyj den Russen "Nuklear-Terror" vor, als es zum Beschuss der Atomanlage kam. Schon damals hatte Selenskyj kräftig ins Register gegriffen und erklärt:

Der Terroristen-Staat verlegt sich jetzt auf Nuklear-Terror.

Dabei war nur ein Schulungsgebäude und ein Museum beschossen worden. Dass Selenskyj damals maßlos aus politischem Interesse übertrieben hat, macht ihn jetzt jedenfalls nicht glaubwürdiger.

Die Anschuldigungen von Amnesty International

Schlechter steht es um die Glaubwürdigkeit in diesen Tagen für die ukrainische Seite, seitdem Amnesty International (AI) einen Bericht vorgelegt hat, der russische Vorwürfe bestätigt hatte:

Ukrainische Truppen haben nach Untersuchungen von Amnesty International Zivilist:innen gefährdet, indem sie Stützpunkte in Wohngebieten errichtet und von dort aus Angriffe durchgeführt haben. Zum Teil bezogen sie in Schulen und Krankenhäusern Position. Bei darauffolgenden russischen Angriffen auf bewohnte Gebiete wurden Zivilist:innen getötet und zivile Infrastruktur zerstört.

So wurde von unabhängiger Seite bestätigt, was die Ukraine immer bestritten hat, obwohl es zahlreiche Videos in sozialen Medien gab, in denen ukrainische Kämpfer in zivile Einrichtung zu sehen waren. Dass "Militär wiederholt aus Wohngebieten heraus operiert und damit Zivilpersonen in Gefahr gebracht" hat, benennt (AI) als einen klaren "Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht". Angefügt wird:

Dass die ukrainischen Streitkräfte sich in einer Verteidigungsposition befinden, entbindet sie nicht von ihrer Pflicht, sich an völkerrechtliche Regelungen zu halten.

Man sagt, dass im Krieg die Wahrheit immer zuerst stirbt und bestenfalls nur mit erheblicher Verzögerung etwas Licht in die Vorgänge gebracht wird. Dass auch die ehemalige AI-Chefin Oksana Pokaltschuk wegen des Berichtes zurückgetreten ist, weist, wie die Sprache von Pokaltschuk, darauf hin, dass sie offensichtlich unbequeme Vorgänge lieber unter dem Teppich halten will. Das ukrainische Büro übersetzte den Bericht nicht ins Ukrainische und stellte ihn nicht auf seine Website.

Dass Pokaltschuk der Menschenrechtsorganisation vorwarf, eine Erklärung abgegeben zu haben, "die wie eine Unterstützung der russischen Narrative klang" und in dem Bemühen, "Zivilisten zu schützen" zu einem "russischen Propagandainstrument" geworden zu sein, lässt bei manchen den Gedanken aufkommen, dass es für die Wahrung der Menschenrechte besser war, dass sie ihren Sessel geräumt hat.

Ihr einfaches Weltbild klingt wie das von Selenskyj. Der erklärte abstrus, die Menschenrechtsorganisation wolle "eine Amnestie für den terroristischen Staat erlassen und die Verantwortung vom Aggressor dem Opfer zuschieben".

Glaubwürdiger wird man auch nicht, wenn man in sich an ein Gut-und-Böse-Schema klammert und jede Kritik mit dem Vorwurf begegnet, für den Feind zu arbeiten. So meinte Selenskyjs Berater Mikhail Podolyak, es handele sich um einen Versuch, die Waffenlieferungen aus dem Westen zu stoppen:

Es ist eine Schande, dass sich eine Organisation wie Amnesty an dieser Desinformations- und Propagandakampagne beteiligt.

Und wenn einer der Militärführer erklärt, bei Amnesty seien sie "schon immer Arschlöscher" gewesen, ist das schlimm. Dass Dmitri Jarosch dazu meint, die gehören "abgeschossen und versenkt", macht deutlich, wessen Geistes Kind der rechte Ultra ist, der von "Nichtmenschen" faselt.

Appell an die IAEA

Doch zurück zum Atomkraftwerk Saporischschja und der gefährlichen Zuspitzung durch den Beschuss. Man kann dem UN-Generalsekretär António Guterres nur zustimmen, der erklärt:

Jeder Angriff auf ein Atomkraftwerk ist eine selbstmörderische Angelegenheit.

Er forderte, dass Experten der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA nach Saporischschja gelassen werden. Auch der IAEA-Chef Rafael Grossi spricht schon von einer "sehr realen Gefahr einer nuklearen Katastrophe".

"Die Atomkraft ist tot"

Zustimmen kann man letztlich dem Kommentar von Judith Görs für n-tv. Sie stellt richtig fest, dass es "gar nicht entscheidend" ist, wer zu Saporischschja lügt:

Es ändert nichts an dem Szenario, vor dem die Region und ganz Europa stehen, sollte das Unvorstellbare eintreten.

Sie stellt auch richtig heraus, wie absurd die angebliche Debatte um "die Versorgungssicherheit in Deutschland ist, die in Teilen von Union und FDP zu Wiedererweckungsfantasien rund um die Atomkraft" geführt wird, hinter der sich ganz andere Interessen verstecken. Für sie ist angesichts der Vorgänge in der Ukraine klar: "Die Atomkraft ist tot."

Ihr Glaube, im Krieg siege letztlich die Vernunft, erweist sich spätestens jetzt als naiv. Und sie verweist auch darauf, wie unsinnig abhängig man von Atomanlagen ist, wie ständige Anpassungen vom Sicherheits- oder Umweltauflagen auch in Frankreich zeigen.

Dass das AKW überhaupt noch läuft, ist auch ein Eingeständnis der Regierung in Kiew an die eigene Handlungsunfähigkeit. Die Ukraine deckt etwa die Hälfte seines Strombedarfs durch Atomkraft ab. Auf Saporischschja zu verzichten, es also vom Netz zu nehmen, ist keine Option. Das AKW ist systemrelevant.

Judith Görs

In Frankreich hat man ähnliche Probleme, steckt in einer ähnlichen Sackgasse. Man ist in Paris bereit, Flora und Fauna zu opfern und setzt das Land und seine Nachbarn immer stärker der Gefahr eines Super-Gaus durch uralte von Rissen durchzogenen Anlagen aus.

Wer in solch einer Gemengelage in Deutschland noch immer von der Wiedergeburt der Atomkraft träumt, sollte endlich aufwachen. Kernkraft bleibt eine Hochrisikotechnologie, deren Sicherheit nicht zu 100 Prozent garantiert werden kann – weder im Kriegsfall noch im Krisenfall. Was muss denn noch passieren, damit das endlich in allen Köpfen ankommt?

Judith Görs

Dem ist angesichts der Tatsache nichts hinzuzufügen, dass billige und ungefährliche Alternativen zur Verfügung stehen, die nicht das Land verseuchen, keine Entsorgungsprobleme für eine Million Jahre aufwerfen, nicht massenweise Trinkwasser verdampfen oder die Gewässer extrem erhitzen, wie fossile Kraftwerke eben auch.