Überkonsum als Symptom des heutigen Kapitalismus

Über Meta-Waren und Überkonsum. Was "binge watching" mit der Gentrifizierung verbindet.

Der Marxismus war immer bemüht, deutlich zu machen, dass sich grundlegende soziale, wirtschaftliche und ökologische Probleme im Kapitalismus nicht innerhalb dieses Wirtschaftssystems selbst lösen lassen.

Er bekräftigte das in den letzten Jahren etwa gegenüber der sogenannten Konsumkritik, die meint, dass eine Kritik an Waren, deren Produktion besonders üble Arbeitsbedingungen benötigt und besonders unökologisch ist, sich darin zu erschöpfen hätte, den Einzelnen dazu aufzurufen, ethischer zu konsumieren, ohne dabei eine grundlegende Kritik an den Produktionsverhältnissen kundzutun.

Der Kapitalismus aber ist als System sehr clever und instrumentalisiert zu seiner Stabilisierung die verschiedensten Belange: Er hat dieses Bedürfnis nach "fairem" Konsum inzwischen integriert und zu einem weiteren Geschäftszweig gemacht. Wer zum Beispiel heute in bestimmte Cafés den eigenem Kaffebecher mitbringt, bekommt den Coffee to go günstiger als jemand, der einen Pappbecher benutzt.

Marxisten haben sich ausgiebig mit der Produktionssphäre befasst und die Konsumtionssphäre folgerichtig bloß als dessen Symptom begriffen. Inzwischen aber gibt es Phänomene, die zumindest auf den ersten Blick das Verhältnis von Produktion und Konsum erneuert erscheinen lassen.

Komaglotzen

Im Bingen etwa, mit dem zunächst ein übermäßiges Sich-reinwürgen von Essen gemeint war, inzwischen aber auch der exzessive Konsum von Fernsehserien verstanden wird, drückt sich etwas aus, was Theoretiker des digitalen Zeitalters als "Wiederkehr des Körpers" bezeichnen würden: Der menschliche Leib wird strapaziert, bewusst der Überlastung oder Übermüdung, Overkills und Overloads ausgesetzt.

Magen- und Reiz-Überflutung dienen der Zerstreuung, ohne die der Alltag kaum noch durchzustehen ist. Früher soffen sich die Leute die Hirne weg, heute betreibt die psycho-gesundheitsbewusste Jugend binge watching.

Das Phänomen des binge watching zeigt, im Kapitalismus herrscht nicht nur Über-Produktion, sondern auch Über-Konsum. Das eine bringt das andere unweigerlich hervor, denn was zuviel produziert wird, muss auch zuviel konsumiert werden.

Die Überproduktion von Waren war stets nötig, um den "tendenziellen Fall der Profitrate" (Karl Marx) auszugleichen, heute scheinen die Individuen ihren tendenziellen Fall der Lebensinn-Rate auszugleichen mittels Überkonsum. So werden die Menschen in den westlichen Staaten immer übergewichtiger, und zwar am meisten dort, wo das Kapital am ungehindertsten wüten kann.

Hieran kann man sehen, dass auch in der sogenannten Konsumkritik die Produktionskritik schon implizit enthalten ist. Die Konsumkritiker gehen das Prolem nur von der anderen Seite, der des Symptoms an.

Wie die Kapitalismuskritiker wollen auch sie weniger Produktion von Überflüssigem, haben aber vielleicht schon so resigniert, dass sie denken, das System sei eher zu überwinden, indem man individuell Verzicht übt, also etwa Fettleibigkeit mit gesünderer Ernährung begegnet, als noch Hoffnungen auf einen kollektiven Sturz des Kapitals zu hegen, der dazu führte, dass die überzuckerten Lebensmittel aus den Regalen verschwinden.

Binge eating wie binge watching sind Phänomene des Überflussses wie des Mangels zugleich: Man frisst etwas in sich hinein, wo ein innerer Mangel besteht; man ballert sich voll, wo man eigentlich etwas hätte hervorbringen sollen.

Konservengedanke an Konservengedanke

Diese Tendenz zeigt sich schon in den Zeitungen und den Sozialen Medien: Hier wird eine Schwere der Passivität kultiviert, die nur noch über den eigenen Konsum (von Essen, Reisen, Veranstaltungen, Büchern, Filmen, Musik) berichtet, lediglich konsumiertes Zitat an Zitat, Anspielung an Anspielung, Konservengedanke an Konservengedanke reiht, ein Konsumerlebnis ans nächste setzt, statt selbst zu erfahren und zu produzieren.

Solche Erfahrungs- und Produktions-Unterbindung führt dazu, dass in den Netzwerken das eigene Erleben selbst konsumiert und den anderen zum Second-Hand-Konsum angeboten wird. Außergewöhnlich ist das nicht in einem System, in dem das Verhältnis von Konsum und Produktion so gestört ist wie im kapitalistischen.

Produktions- und Konsumtions-Sphäre sind hier so stark voneinander abgetrennt, dass für die meisten auch individuell keine Balance mehr zwischen ihrem Konsum- und ihren Erzeugungsmöglichkeiten vorstellbar ist.

Ersatz fürs Produzieren: Man frisst sich voll mit Inhalten

Das Erheben des Konsums zum Lifestyle, die gegenseitige Verständigung über diesen und dessen Ethik, werden zum Ersatz fürs Produzieren – das ist hier der problematische Punkt, nicht das bloße Konsumieren selbst, welches in jedem Wirtschaftssystem schlicht notwendig ist.

Selbst die Kritik der Konsumkritik fungiert so noch als eine weitere Konsumkritik, nämlich z.B. die, anstatt der Bücher von Harald Welzer und Fairtrade-Freunden lieber solche von Karl Marx zu konsumieren.

Das bingen ist dabei ein sehr charakteristisches Symptom dieser Zeit: Man frisst sich voll mit Inhalten, zu denen man ohnehin nur in abstraktem Verhältnis steht. Die konsumierende Sicht auf die Welt lässt den Betrachter als einen Passiven zurück, der zur Wirklichkeit in keinem praktischen, also konkreten Verhältnis mehr steht.

Weshalb die gegenwärtige Konsumkritik auch nicht verwechselt werden sollte mit etwa Pier Paolo Pasolinis marxistischem Kampf gegen die Konsumgesellschaft als solche, welche die Passivierung der Individuen innerhalb des Systems bürgerlicher Vermittlung von Konsum und Arbeit vorantreibt.

Diesem Marxismus ging es darum, dass die total durchgesetzte Ideologie des Konsums "das Besondere vernichtet" (Pasolini), und nicht etwa, dass die Menschen weniger (oder "richtiger") einkaufen sollen und sich gerade darin ihre Identität zurecht zu basteln hätten.