Trifft kaum "die Richtigen": Scheinargumente für den EU-Visumsbann gegen Russen

Reisen bildet. Und Russen, die heute den Westen besuchen, haben in der Regel ohnehin keine kriegspatriotische Gesinnung. Symbolbild: Thomas Ulrich auf Pixabay (Public Domain)

Politiker aus Osteuropa, aber auch engagierte deutschsprachige Ukraine-Freunde wollen russische Reisende aus dem Schengener Raum aussperren – mit Argumenten, die nicht überzeugen.

Der anfangs aus Estland vorgebrachte Vorstoß, Russen keine Schengen-Visa oder zumindest keine touristischen Schengen-Visa mehr auszustellen, hat weitere Unterstützer bei den übrigen baltischen Staaten, Polen und Tschechien gefunden. Viele der Staaten sind bereits selbst mit Visa- und Reiserestriktionen aktiv geworden und wollen diese nun EU-weit ausweiten lassen.

Angesichts des russischen Ukrainekriegs unterstützen aus nachvollziehbaren Gründen emotional aufgeladene mitteleuropäische Ukraine-Feunde das Vorhaben, russische Staatsbürger aus dem Schengener Raum für Reisen auszuschließen. Betrachtet man jedoch die Argumente unter sachlichen Gesichtspunkten zeigt sich, dass jeder Visumbann für Russen kontraproduktiv wirkt:

1.: "Wer in Russland nicht aktiv gegen den Krieg aufsteht, unterstützt ihn"

Dieses Argument nutzt unter anderem der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. In diesem Kontext wird auch darauf hingewiesen, dass es in Russland aktuell nur wenige offene Antikriegsproteste gibt und somit eine Visumsperre "die Richtigen träfe". Damit wird unterstellt, dass die russische Antikriegsszene schwach bis nicht vorhanden sei.

An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass es unmittelbar nach dem Start der russischen Ukraine-Invasion in Russland umfangreiche Antikriegsaktionen in vielen Städten – nicht nur in Moskau und Sankt Petersburg – gab. Es folgten offene Briefe und Appelle von Tausenden russischen Künstlern, Wissenschaftlern, Journalisten und anderen. Straßenproteste, Antikriegsplakate und -graffiti waren gängige Protestformen, die letzten beiden gibt es bis heute.

Eine große Welle staatlicher Repressionen ab März stoppte aber die offenen Protestformen. Es kam zu Verhaftungswellen und teilweise harten Verurteilungen zu Haftstrafen - sogar wegen simpler Posts in Sozialen Medien. Die unterstützende oppositionelle Presse wurde geschlossen, Multiplikatoren des Protestes flohen ins Ausland. Nur deshalb sind inzwischen nur noch verdeckte Protestformen möglich - doch weiterhin sind laut einer geleakten Umfrage des staatlichen Instituts WZIOM für die Kreml-Administration 30 Prozent der Bevölkerung offen gegen den Krieg.

Da sich diese Menschen überdurchschnittlich für den Westen und Europa interessieren und zu ihm eine positivere Meinung haben als russische Kriegspatrioten, darf man davon ausgehen, dass ihr Anteil unter den Reisewilligen wesentlich höher ist. Russische Kriegsbefürworter betrachten den Westen als "unfreundliches", ja feindliches Ausland und werden sich nur wenig unter den Reisenden ins Feindesland finden.

Dass Proteste durch staatliche Repressionen zunächst erfolgreich erstickt werden können, ist keine russische Eigenart. 2020 brachten Massenproteste in Weißrussland den dortigen Präsidenten Alexander Lukaschenko bis an den Rand des Machtverlusts. Dennoch schaffte er es – mit ähnlichen Maßnahmen wie in Russland und harter Polizeigewalt –, die Situation oberflächlich bis heute so zu befrieden, sodass es innerhalb von Belarus kein offenes Aufbegehren der Opposition mehr gibt.

2.: "Russen sollten während dieses Krieges nicht betrunken in der EU feiern"

Internationaler Massentourismus hat immer negative Begleiterscheinungen. Doch niemand würde wegen deutschen Exzessen am Ballermann oder ähnlichen Urlaubsorten auf die Idee kommen, deutschen Touristen Auslandsreisen zu verbieten. Bei den russischen Reisenden werden von den Befürwortern der Visasperren tatsächlich vorkommende Extreme zu einem Klischeebild verdichtet und damit verallgemeinert, um die eigene Meinung zu rechtfertigen.

Tatsächlich waren die Tage des russischen Massentourismus in Richtung Westen bereits mit der Corona-Pandemie gezählt und werden nicht mehr wiederkommen. Die Russen, die jetzt in den Westen reisen wollen und denen man das verwehren will, sind nicht Teil des Pauschalreisenden- und Partypeople-Tourismus, der sich für Land und Leute vor Ort kaum interessiert.

Russische Reiseveranstalter, die sich an Massentouristen wenden, haben Europa überhaupt nicht mehr im Programm, da es zum einen keine direkten Flugverbindungen mehr gibt. Zum anderen sind attraktive Ziele für Russen im Gegensatz zur EU auch ohne bürokratische Visabeschaffung erreichbar, etwa die Türkei, Dubai, Thailand oder russische Inlandsziele.

Wer jetzt als Russe oder Russin in die EU reisen will, hat tieferes Interesse oder gewichtige Gründe, etwa Freunde, Verwandte oder wichtige berufliche Kontakte. Diese Reisenden entsprechen nicht dem verbreiteten Klischee von der russischen Feiertruppe, der man vielleicht Anfang bis Mitte der 2010er-Jahre auch mal an einem Massenurlaubsziel getroffen hat. Es handelt sich mehrheitlich um weltoffene Akademiker oder Geschäftsleute.

3.: "Ein Visabann macht Russen böse auf ihre Regierung"

Dass dieses Kalkül nicht aufgeht, belegt bereits die Welle von Boykotten der westlichen Konsumgüterindustrie, die Russland nach dem Kriegsausbruch überschwemmte. Von Coca Cola über Ikea bis zu großen Bekleidungsmarken kehrten die Konzerne dem russischen Markt den Rücken, um ihrem Protest gegen den russischen Angriffskrieg Ausdruck zu verleihen.

Die russischen Verbraucher, die dieser Boykott traf, suchten die Schuld gemäß durchgeführter Umfragen nicht bei ihrer Regierung, sondern bei den westlichen Konzernen, die die Boykotte verhängten. Die russischen Funktionsträger wiederum, die wirklich mit der Kriegsführung betraut waren, hatten oft die Möglichkeit, über Grauimporte oder Reisen in Drittstaaten alles weiter zu beschaffen, worauf sie Lust hatten.

Noch ein weiterer Grund zeigt, dass eine Visasperre keinen negativen Einfluss auf die innere russische Stimmungslage haben wird. Wie das ARD-Studio Moskau berichtet, besitzen überhaupt nur 30 Prozent der Bevölkerung einen Auslandsreisepass. Für die Mehrheit sind beim eigenen Lebensstandard Auslandstrips nur ein ferner Traum. Ein Reiseziel weniger, das noch dazu praktisch wenig Marktanteile besitzt, bringt die meisten Russen überhaupt nicht auf.

Nur die, die eben wie vorab geschildert, eine stärkere Verbindung nach Westen haben - sie werden hier jedoch ebenfalls von den Sperrern enttäuscht. Wer für den Krieg aus Russland leitend mitverantwortlich ist, besitzt durch die Sanktionen bereits Einreisesperren.

4.: "Zumindest Touristen- und Geschäftsvisa sollte man stoppen"

Manchmal verfangen auch Argumente der Gegner des Visumstopps im Lager derer, die Russen eigentlich komplett aussperren wollen. Etwa die Tatsache, dass man es aus politischen oder wegen der sexuellen Orientierung Verfolgten doch ermöglichen muss, Russland zu verlassen. Um ihren Wunsch nach Visumsperre zu halten, verweisen die Befürworter dabei auf die Möglichkeit, quasi als Flüchtling ohne Visum in den Westen zu kommen und dort Asyl zu beantragen.

Hier herrscht eine völlige Unkenntnis darüber, wie die meisten politisch motivierten Auswanderungen aus Russland vonstatten geben. Sie führten bisher fast immer über ein noch relativ einfach zu erlangendes Schengen-Visum. So muss der Flucht- oder Ausreisewillige in Russland nicht sein wahres Ziel offenbaren und dadurch zwischen die Mühlsteine der staatlichen Repression geraten.

Auch können vorbereitende Maßnahmen erfolgen, etwa im Zielland eine Beschäftigung anzubahnen oder die zukünftigen Wohnverhältnisse zu organisieren.

Hier existieren auf oppositionellen russischen Webseiten oder in Onlinezeitungen zahlreiche Tipps, über welche Länder man mit welchen Gründen einfache Visa bekommt. Nicht jeder, der politisch in Russland keine Zukunft sieht, kann zudem bereits mit längeren Haftstrafen aus diesem Grund aufwarten, um die eigene politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts nachzuweisen.

Es ist in Russland auch davon abzuraten, einmal etwas zu machen, was staatliche Verfolgung auslöst, um einen nachweisbaren Fluchtgrund zu schaffen. Unter der aktuellen russischen Militärzensur können auch Kleinigkeiten mit mehrjährigen Haftstrafen ohne Bewährung geahndet werden. Diskriminierungen aufgrund sexueller Orientierung, die es in Russland immer massiver gibt, sind weiterhin für sich genommen nicht als politische Verfolgung anerkannt.

Die EU hat zusätzlich mit starken Grenzsperren an ihren Ostgrenzen dafür gesorgt, dass der klassische Flüchtlingsweg in die EU für politisch verfolgte Russen komplett versperrt ist - ein einfacher Grenzübertritt ohne Visum ist unmöglich. Ein Schengen-Visum, wie man es nun sperren möchte, ist für politisch Verfolgte die einzige einfache Ausreisemöglichkeit.

5.: Visasperren schaden der Kreml-Propaganda

Eine weitgehend Abkapselung der EU von der russischen Bevölkerung ist kein Schaden, sondern eine unfreiwillige Hilfe für die russische Staatspropaganda. Meinungen, die vom Narrativ der russischen Staatsmedien abweichen, gelangen nach Russland immer weniger online. Oppositionelle Medien werden geschlossen, ausländische gesperrt.

Ein weiterer Weg, über den andere Sichtweisen nach Russland kommen, sind unzweifelhaft Auslandsaufenthalte von russischen Bürgerinnen und Bürgern. Hier treffen Russinnen und Russen gerade auf längeren Reisen wie Studienaufenthalten oder Geschäftsreisen auf andere Einstellungen und Sichtweisen und nehmen sie mit zurück in die Heimat. Mit dem Wegfall der Reisen wird Russland zunehmend zum geschlossenen Raum, den der Kreml mit seiner Macht kontrolliert.

Natürlich kommt es immer wieder auch zu Reisen von russischen Staatsbürgern mit regierungsnahen Ansichten. Doch auch sie bleiben von diesem Effekt nicht verschont. Bei Kriegsausbruch kündigten etwa zahlreiche Journalisten russischer Staatsmedien ihre Beschäftigung – ein nicht unerheblicher Teil von ihnen hatte für sie im Ausland gearbeitet und kannte dadurch fremde Sichtweisen genauer als die Durchschnittsbevölkerung im eigenen Land.

Gerne herangezogen und viral von Befürwortern des Visastopps geteilt werden einzelne Videos, die russische Kriegsbefürworter provokant und primitiv auf Europareisen erstellen und dort ihre Kriegsbegeisterung zur Schau stellen. Bekannt ist etwa das Filmchen einer jungen russischen "Patriotin", die in Wien ukrainische Flüchtlinge beleidigt.

Hier muss man aber wissen, dass diese Videos vor allem deshalb existieren, weil das "patriotisch" gesinnte Publikum in Russland momentan praktisch geschlossen eben nicht im Westen unterwegs ist – somit können sich primitive Einzelreisende auf seltenen Trips gegenüber ihren Gesinnungsgenossen als "Helden" inszenieren.

Nutzen westliche Aktivisten solche Extrembeispiele für einseitige Propaganda, verhalten sie sich nicht besser als Kreml-Medien, die stets die größten Missstände der westlichen Gesellschaft zu den russischen Zuschauern transportieren und daraus ein verzerrtes, düsteres Gesamtbild schaffen.

Im Gegensatz dazu sollte es Aufgabe einer offenen, westlichen Gesellschaft sein, sich von Radikalen nicht provozieren zu lassen und Unschuldige vor den Folgen einer Kollektivschuldtheorie zu schützen.