Wutwinter 2022: Erste Vorläufer erreichen Europa

Themen des Tages: Unterschiedliche Botschaften aus Prag. Schlechtere Chancen für politische Lösung des Ukraine-Krieges. Und ein Realitätscheck für die Linke in Chile.

Liebe Leserinnen und Leser,

in Prag bekamen EU-Regierungen am vergangenen Wochenende einen Vorgeschmack auf den Wutsommer, -winter, -herbst und -frühling. Die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj in der Ukraine bricht diplomatische Brücken ab. Und in Chile wurde die regierende Linke auf den Boden der konservativen Tatsachen geholt.

Doch der Reihe nach.

Botschaften aus Prag: Baerbock und die 70.000

Zwei Ereignisse in der tschechischen Hauptstadt Prag haben in den vergangenen Tagen das Spannungsfeld gezeigt, das der laufende Krieg Russlands gegen die Ukraine in Europa geschaffen hat: Am Mittwoch vergangener Woche versicherte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) den transatlantischen Partnern einer deutschen Bundesregierung wieder einmal die uneingeschränkte Solidarität Berlins zu. "No matter what my German voters think", so Baerbock, was von ihren anwesenden Amtskollegen zwar goutiert, in Deutschland aber durchaus kontrovers diskutiert wurde.

Drei Tage später gingen unweit des Außenminister-Panels nach Angaben der tschechischen Polizei gut 70.000 Menschen auf die Straße. Gut, das waren jetzt nicht direkt die Wähler von Frau Baerbock. Die Organisatoren in Prag gaben aber einen Vorgeschmack auf das, was Politik und Medien unter dem Begriff "Wutwinter" voraussagen.

Mit scheinbar absurdem Gleichmut steuern Europas Regierungen auf das Chaos zu. In den 19 Ländern der Eurozone sind die Verbraucherpreise im August um 9,1 Prozent gestiegen, im Vormonat waren es 8,9 Prozent. Selbst die Überseepresse, in diesem Fall die New York Times, verweist mit einem Unterton der Sorge darauf, dass die Rate im Vergleichszeitraum 2021 gerade einmal drei Prozent betrug. Damals noch habe dies die Verantwortlichen alarmiert, schrieben die New Yorker Kollegen: "Jetzt würde ein solcher Wert mit Erleichterung aufgenommen."

Tatsächlich lassen nicht nur die lauen Außentemperaturen in Mitteleuropa Anfang dieses Septembers erahnen, dass die Eskalationsdominanz in Moskau liegt. Der Lieferstopp über Nord Stream 1, der Anfang dieser Woche – angeblich wegen technischer Probleme – verkündet wurde, sorgte sogar bei den derzeitigen klimatischen Bedingungen umgehend für eine Explosion der Gaspreise, der Dax fiel um mehr als drei Prozent und steuerte auf den größten Tagesverlust seit Anfang März zu.

All das zeigt auch: Das offenbar wenig durchdachte, eilends zusammengeschusterte und nicht hinreichend gegenfinanzierte dritte Maßnahmenpaket der Bundesregierung entlastet weder die Regierenden politisch noch die Bevölkerung finanziell.