Überlebt die Idee des Westens den russischen Ukraine-Krieg?

Die Nato zeigt sich angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine geschlossen. Doch im geopolitischen Westen zeigen sich Risse der Uneinigkeit. Bild: Marek Studzinski

Russlands Krieg in der Ukraine und Chinas Aufstieg: Der Westen steht unter Druck. Seine innere Geschlossenheit bröckelt. Was folgt daraus?

Der "Westen" ist nicht nur ein Begriff, sondern auch ein Konzept, das im Laufe der Zeit immer wieder neue Bedeutungen annimmt. Für seine Befürworter ist er gleichbedeutend mit Zivilisation und wohlwollender Macht; für seine Gegner, vor allem im "Osten" und "Süden", wird er mit Kolonialismus, unkontrollierter Gewalt und unzureichendem Wohlstand assoziiert.

Die gegenwärtigen seismischen Verschiebungen im Weltgeschehen – namentlich der Krieg zwischen Russland und der Ukraine und der aufkeimende Konflikt in der Straße von Taiwan – zwingen uns dazu, den Westen nicht nur als historisches Konzept, sondern auch als aktuelle und künftige Idee neu zu betrachten.

Ramzy Baroud ist US-Journalist, Buchautor, Herausgeber des Palestine Chronicle, und forscht an der Istanbul Zaim University.

Die Prägung des Begriffs Westen im 5. Jahrhundert v. Chr. wird häufig dem antiken griechischen Historiker und Geografen Herodot zugeschrieben. Die Ursachen für diese Prägung dürften vor allem geografischer Natur gewesen sein. Im 11. Jahrhundert wurde die Trennung zwischen West und Ost jedoch eindeutig geopolitisch, als sich das Machtzentrum der katholischen Kirche von Rom nach Osten, nach Byzanz, verlagerte. Während die katholische Kirche den Westen repräsentierte, war die orthodoxe Kirche der Inbegriff des Ostens.

Natürlich sind die historischen Gegebenheiten nie so einfach, denn Geschichte und ihre Interpretationen werden von Menschen mit ihren eigenen religiösen, nationalistischen und regionalen Vorurteilen geschrieben. Diejenigen, die im Osten lebten, hatten offensichtlich keine Wahl, genauso wie diejenigen, die im heutigen Nahen Osten leben, kaum konsultiert wurden, bevor die westlichen Kolonialmächte die Geografie der Welt auf Einflussgebiete und die Nähe dieser Regionen zu den Zentren der westlichen Imperien – London, Paris, Madrid usw. – zugeschnitten haben.

Im globalen Süden ist der Westen kaum eine geografische Größe, sondern eine Idee, und zwar häufig eine schlechte. Für den Süden bedeutet der Westen wirtschaftliche Ausbeutung, politische Einmischung und manchmal auch militärische Interventionen. Die intellektuelle Elite des Südens ist oft gespalten zwischen der Notwendigkeit, sich zu verwestlichen, und ihrer berechtigten Angst vor der Verwestlichung. In Ländern wie Nigeria nimmt die Diskussion oft gewalttätige Züge an. Der Name der militanten Gruppe Boko Haram bedeutet übersetzt so viel wie "westliche Bildung ist verboten".

Natürlich ist der Westen weitaus umfassender als die Geografie. Zuweilen scheint die Konnotation rein politisch zu sein. Australien und Neuseeland zum Beispiel sind "westliche Länder", obwohl sie in der geografischen Region Ozeanien liegen.

In der Vergangenheit hat Washington sogar die Bedeutung des Westens selbst verändert, um seinen reinen militärischen Interessen Rechnung zu tragen. Im Januar 2003 benutzte der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld den Begriff "Altes Europa" im Gegensatz zum "Neuen Europa" und bezog sich dabei auf die neu aufgenommenen osteuropäischen Nato-Mitglieder, die praktischerweise die Invasion seines Landes im Irak und in Afghanistan unterstützten.

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