Chomsky: "Es gibt das Risiko, dass der Westen bis nach Russland vordringen könnte"

Wolodymyr Selenskyj besucht Butscha, wo er mit Bewohner:innen und Journalisten spricht. Bild: Public Domain

Noam Chomsky sagt: Der Westen könnte in der Ukraine fortschrittlichere Waffen einsetzen und den Krieg bis nach Russland ausweiten. Warum die ablaufende Neujustierung der Weltordnung in der Katastrophe enden könnte. (Teil 2 und Schluss)

Das Interview mit Noam Chomsky führt der Politikwissenschaftler C.J. Polychroniou. Das Interview erscheint in Kooperation mit der US-Nachrichtenseite Truthout. Der erste Teil des Interviews mit Chomsky zum Ukraine-Krieg wurde am Montag auf Telepolis veröffentlicht.

Sieben Monate nach Putins verbrecherischem Einmarsch in die Ukraine hat der Krieg einen Wendepunkt erreicht. Mit Putins Aufruf zur "Teilmobilisierung" ist er nach Russland zurückgekehrt, und eine Annexion von Teilgebieten in der Ukraine findet statt. Was bedeutet die Aufstockung der russischen Streitkräfte in der Ukraine für Russland und die Ukraine? Sind Putins Befehle zur militärischen Einberufung ein Eingeständnis, dass Russland in der Ukraine keine "militärische Spezialoperation" mehr durchführt?

Noam Chomsky: Was in Russland geschieht, ist unklar. Es gibt Berichte über Proteste und Zwangsrekrutierungen sowie Aufrufe, "Mütterchen Russland" gegen eine weitere westliche Invasion zu verteidigen, die man aber – wie frühere Versuche, die bis zu Napoleon zurückreichen –, niederschlagen werde. Solche Appelle könnten Gehör finden. Die historischen Erinnerungen wurzeln tief. Wie sich die Stimmung in Russland entwickeln wird, können wir aber nur vermuten.

Es war von Anfang an eine kriminelle Invasion und zu keinem Zeitpunkt eine "militärische Spezialoperation", aber im Kreml versucht man weiter, diesen Eindruck zu vermitteln. Es ist unwahrscheinlich, dass die Mobilisierung in nächster Zeit große Auswirkungen auf den Krieg haben wird. Die langfristigen Effekte sind unklar.

Noam Chomsky ist Professor für Linguist, US-Kritiker und Aktivist. Er hat rund 150 Bücher geschrieben.

Die Versäumnisse und die Inkompetenz des russischen Militärs haben die meisten der gut informierten Analysten überrascht. Das könnte auch auf die Mobilisierung, Ausbildung und Lieferung von Ausrüstung zutreffen. Eine nennenswerte Stärkung der russischen Streitkräfte durch die Mobilisierung wird wahrscheinlich weit in der Zukunft liegen und wohl erst nach den Wintermonaten zum Tragen kommen. Russland könnte Truppen aus anderen Regionen verlegen, aber ob die Führung die Fähigkeit oder den Willen dazu hat, kann ich nicht einschätzen.

Die Mobilisierung und die Annexion scheinen auf einen langwierigen Zermürbungskrieg hinzudeuten. Wenn es gelingt, den Krieg in eine andere Richtung zu lenken, erhöht sich das Risiko, dass der Westen den Einsatz mit fortschrittlicheren Waffen forciert und vielleicht sogar bis nach Russland vordringt, wie es Präsident Selenskyj gefordert hat, was bisher abgelehnt wurde. Es ist nicht schwer, sich Szenarien vorzustellen, die zu katastrophalen Folgen führen.

Und das ist nur der Anfang. Die Auswirkungen des Krieges gehen weit darüber hinaus: bis hin zu den Millionen von Menschen, die aufgrund der Einschränkung der Getreide- und Düngemittelausfuhren – die jetzt teilweise aufgehoben wurden, obwohl es kaum Informationen darüber gibt, wie viel –, vom Hungertod bedroht sind. Aber was am wichtigsten ist und am wenigsten diskutiert wird, ist die komplette Revision der an sich schon geringen internationalen Bemühungen, die Klimakrise zu bewältigen, ein kolossales Verbrechen gegen die Menschheit.

Während riesige Ressourcen für die Zerstörung vergeudet werden und die fossile Brennstoffindustrie gut gelaunt die Erschließung neuer Gas- und Ölfelder feiert, um die Atmosphäre noch mehr mit Treibhausgase zu vergiften, teilen uns die Wissenschaftler mit, dass ihre düsteren Warnungen viel zu konservativ waren.

So haben wir vor kurzem erfahren, dass sich die Region des Nahen Ostens, nicht weit von der umkämpften Ukraine entfernt, fast doppelt so schnell erwärmt wie der Rest der Welt, mit einem geschätzten Anstieg von fünf Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts, und dass der Meeresspiegel im östlichen Mittelmeerraum bis Mitte des Jahrhunderts um einen Meter und bis zum Jahr 2100 um bis zu 2,5 Meter ansteigen wird. Das ist natürlich noch nicht alles. Die Folgen sind kaum abzuschätzen.

In der Zwischenzeit ist der Nahe und Mittlere Osten der globale Hotspot der Erderhitzung, die ihn an den Rand der Überlebensfähigkeit und bald darüber hinaus schiebt. Und während Israel und der Libanon vielleicht schon bald im Meer versinken, streiten sie sich, wer die Ehre haben wird, die beiden Länder durch die Ausbeutung der fossilen Brennstoffe an ihren Seegrenzen zu vernichten – ein Wahnsinn, der sich weltweit wiederholt. Angesichts solcher Realitäten stellt die Eskalation des Ukraine-Kriegs ein Ausmaß an Schwachsinn dar, das sich nur schwer in Worte fassen lässt.

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