Tag der Deutschen Einheit: Sind wir wirklich schon ein Volk?

Im November 1989 begann in der DDR die "friedliche Revolution". Knapp ein Jahr später wurde sie in die BRD eingegliedert. Bild: von betexion auf Pixabay

Auch 32 Jahre nach der "Wiedervereinigung" sind Ost und West in vielen Bereichen nicht zusammengewachsen. Das drückt sich in den Einkommen aus, aber auch in der Chancengleichheit. Und in der Kunst.

Deutschland feiert: die Einheit, die eigentlich ein Anschluss war. Es sind nunmehr 32 Jahre vergangen – und die beiden deutschen Teilstaaten sind noch immer nicht richtig zusammengewachsen. Welche Statistik man im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich auch heranzieht: Die alten Grenzen zwischen BRD und DDR bleiben sichtbar.

Das hindert Politiker allerdings nicht daran, ein romantisches Bild von der sogenannten Wiedervereinigung zu zeichnen. "Die Deutsche Einheit ist ein großes Geschenk an uns alle", erklärte die Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey (SPD).

Was dieses Geschenk für viele Ostdeutsche bedeutete, darauf weist der Sozialverband Volkssolidarität in einer Erklärung hin:

Etwa 80 Prozent der Ostdeutschen verloren infolge der Wiedervereinigung zeitweise oder dauerhaft ihren Job. Frauen traf es infolge der flächendeckenden Abwicklungen im produzierenden Gewerbe besonders hart. Die Abwanderung von mehr als 1,2 Millionen Menschen nach der Wende, davon dreiviertel Unter-25-Jährige und vor allem Frauen, hat bis heute Einfluss auf Wirtschaftskraft, Infrastruktur, Geburtenrate und Lebensqualität im Osten.

Volkssolidarität (01.10.2022)

Die demografische Entwicklung sei vorrangig in ländlichen und strukturschwachen Regionen Ostdeutschlands katastrophal. Sachsen habe heute nur noch so viele Einwohner, wie im Jahre 1919. Zudem seien die ostdeutschen Flächenländer auch deutlich überaltert.

Dennoch hat sich in den zurückliegenden 32 Jahren einiges getan, wenn auch der wirtschaftliche Strukturbruch nach 1990 noch nicht überwunden werden konnte. Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, nimmt im Osten ab – "nur" noch 63 Prozent nehmen ihre Lage so wahr, heißt es im aktuellen Bericht des Ostbeauftragten der Bundesregierung. Immerhin sind es drei Prozent weniger als vor zwei Jahren.

Noch ein weiter Weg zur Gleichstellung der Ostdeutschen

Einen gewissen Wohlstand konnten sich die Ostdeutschen seit der "Einheit" erarbeiten – aber bei Einkommen, Vermögen und Rente bleiben sie immer noch zurück. Selbst die Wochenarbeitszeit ist für Ostdeutsche oftmals länger als für ihre Westkollegen.

Damit müsse endlich Schluss sein, fordert Susanna Karawanskij, Präsidentin der Volkssolidarität. "Wodurch ist das so viele Jahre nach der Wiedervereinigung noch zu rechtfertigen?", fragt sie. Gleichwerte Lebensverhältnisse bedeute hauptsächlich: "gleicher Lohn für gleiche Arbeit, gerade in Zeiten von Krise und Inflation".

Das Erreichte ist angesichts des Krieges in der Ukraine und der westlichen Sanktionen in Gefahr. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten warnten deshalb am Montag bei einem Festakt in Erfurt: Die Erfolge beim Aufbau Ost sind durch die Energiekrise in Gefahr geraten.

Viele Ostdeutsche hätten die großen Strukturbrüche mit Massenarbeitslosigkeit in den 1990er-Jahren noch sehr genau vor Augen, sagte Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke der Rheinischen Post. "Deshalb ist auch klar, dass die derzeitige Situation mit großer Sorge wahrgenommen wird und viele Angst haben, dass ihnen alles wegbricht, was sie in drei Jahrzehnten mühsam aufgebaut haben."

Zum Unmut der Ostdeutschen trägt außerdem bei, dass sie in der Bundesrepublik nicht auf Chancengleichheit hoffen brauchen – denn die existiert für sie nicht, was ebenfalls durch den Bericht des Ostbeauftragten bestätigt wird. Egal, ob in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verwaltung, Justiz, Medien oder Militär – Ostdeutsche findet man nur in homöopathischen Dosen in Führungspositionen.

Der Journalist Henry Bernhard kommentierte diesen Befund im Deutschlandfunk so:

Der Anteil der Ostdeutschen in den bundesdeutschen oder auch nur ostdeutschen Eliten ist vermutlich geringer als der Anteil der Linkshänder oder der Laktose-Intoleranten. Kein Ostdeutscher wundert sich darüber, wenn in Leitungsebenen, auf Podien, bei wissenschaftlichen Tagungen, nur Westdeutsche vor ihm sitzen, die ihm die Welt erklären. Kein Ostdeutscher wundert sich darüber, wenn auf einer Party auf einem schönen Brandenburger Seegrundstück alle Gäste aus dem Westen stammen. Das große Problem ist aber, dass auch die Westdeutschen sich nicht darüber wundern.

Verzerrte Bilder über Ostdeutschland im Film

Wie stark Ost- und Westdeutschland zusammengewachsen sind, zeigt sich auch im Film. Immer wieder werden Bilder vom Osten gezeichnet, die mehr westdeutschen Klischeevorstellungen entsprechen als der Realität.

Die Krimi-Serie "Lauchhammer – Tod in der Lausitz" ist ein Beispiel dafür. Hier wird ein Bild von einer Region gezeichnet, die von manchen als Zumutung und demütigend empfunden wird.

Die Menschen werden gezeigt als Alkoholiker, Drogenabhängige, Rassisten oder als welche, die ihre Kinder vernachlässigen. Andere Menschen kommen faktisch nicht vor. Die Stadt Lauchhammer wird als Ort mit extremem Leerstand und zugenagelten Häusern gezeigt.

Käme nicht gelegentlich ein Computer oder ein Smartphone vor, könnte man meinen, die Handlung spiele in den 1950er oder 1960er-Jahre. Die Einrichtung der Häuser, die Gardinen und Fenster legen diese Zeit nahe – aber die Serie spielt im Heute.

Mit der Realität in der Region und mit den Entwicklungen in den letzten 32 Jahren hat diese Serie nichts zu tun. Für die Menschen in der Region ist sie so befremdlich, dass sich auch die Stadt Lauchhammer von dieser Serie distanziert hat.

Die Serie ließ bei vielen den Eindruck entstehen, die Serie verleiht nur den Klischeevorstellungen von Westdeutschen über Ostdeutschland Ausdruck. Die beiden Drehbuchautorinnen stammen schließlich aus Westdeutschland, ebenso der Regisseur und die Mehrzahl der Schauspieler.

Vielleicht sollte man nicht so weit gehen und den Vorwurf der kulturellen Aneignung erheben. Aber die Serie wirft die Frage auf, ob Deutschland wirklich schon so weit zusammengewachsen ist, wie manche Politiker erhoffen. Das Verbreiten von verzerrten Bildern über Ostdeutschland trägt zumindest nicht dazu bei.

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