Eskalation und Lüge: Wie im Krieg die Wahrheit massakriert wird

Der US-amerikanische Zerstörer Maddox, der im Golf von Tonkin von nordvietnamesischen Torpedobooten angegriffen worden seien soll. Bild: U.S. Navy

Der Tonkin-Zwischenfall und andere Falschdarstellungen: Für Angriffskriegskriege wird die internationale Öffentlichkeit systematisch getäuscht und belogen.

Lügen und Täuschungen sind jene informationelle Basis, die in der Art von Vektoren die Richtung des Denkens im Vorfeld von Gewalt begleiten und beeinflussen.

In Hanoi, Vietnam, sitzen einander am 9. November 1995 zwei alte Männer zwecks Gedankenaustausch eine Stunde lang gegenüber: der 79jährige ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara und dessen Widersacher im Vietnamkrieg, Ex-Verteidigungsminister und Oberbefehlshaber der nordvietnamesischen Volksarmee, General Vo Nguyen Giap, im Alter von 85 Jahren.

Im Zuge dieser Unterredung richtet McNamara an Giap eine Frage, die er so formuliert, als wäre er während seiner politischen Laufbahn niemals persönlich an den kriegsintensivierenden und -verlängernden Entscheidungen beteiligt gewesen. In freundlichem Tonfall und der Art eines interessierten Beobachters, fragt McNamara Giap nach einer Sache, die ihn seit drei Jahrzenten angeblich persönlich beschäftigte:

To this day I don’t know what happened on August 2nd and August 4th 1964, in the Tonkin Gulf.

(Bis heute weiß ich nicht, was am 2. und 4. August 1964 im Golf von Tonkin geschah.)

Und Giap antwortete:

Absolutely nothing! Nothing happened from our side on the day of the fourth of August 1964.

(Absolut nichts! Von unserer Seite aus ist am Tag des 4. August 1964 nichts geschehen.)

Rückblende: Vietnam 1964

Anfang August 1964 informierten Vertreter der US-Administration unter Lyndon B. Johnson, mit Wissen und Zustimmung von Verteidigungsminister Robert McNamara, die mediale Weltöffentlichkeit. An zwei Tagen, sowohl am 2. als auch am 4. August, seien Angriffe nordvietnamesischer Torpedoboote auf den im Golf von Tonkin, vor der Küste des damaligen Nordvietnam, patrouillierenden US-amerikanischen Zerstörer Maddox erfolgt.

Dies nahm die US-Administration zum Anlass, die US-Öffentlichkeit zu belügen und zu manipulieren, durch den aufgebauten Druck der Öffentlichkeit den Kongress massiv zu beeinflussen und damit die eigentliche Kriegseskalation in Vietnam auszulösen.

Das Festhalten an der bewussten Falschdarstellung – in Form einer stark übertriebenen Version der Ereignisse – diente dazu, am 10. August 1964 eine Resolution im Kongress zu erwirken, die es Präsident Johnson als Commander in Chief erlaubte, sämtliche US-Streitkräfte einzusetzen.

Der grauenhafte Vietnamkrieg mit Flächenbombardements, chemischer Kriegsführung und massenhaften Kriegsverbrechen hatte begonnen. An die drei Millionen Menschen verloren ihr Leben.

Die Saat der Lüge

Zahllose Rechtfertigungen von Angriffskriegen begannen mit rhetorisch in Vorwände verpackten Lügen. Von den Kriegen der Antike über das Mittelalter bis zu den Invasionen der Gegenwart gilt die seit Jahrhunderten in unterschiedlichsten Varianten auftretende Sentenz: "Die Wahrheit ist stets das erste Kriegsopfer".

In seinem Kern hat sich das Phänomen der Lüge seit den Erzählungen der frühesten Mythen nicht geändert. Dabei war die Lüge in der griechischen Antike noch mit dem Können, im Sinne einer Fertigkeit, neutral bis positiv verknüpft. Ähnlich wie ein Könner im Diskuswurf den Diskus weit, aber auch willentlich wenig weit zu werfen vermochte, hatte der Wissende in der antiken Lebenswirklichkeit sowohl die Wahrheit als auch die Lüge zu seiner ständigen Verfügung.

Deshalb galt beispielsweise Odysseus in den homerischen Epen nicht als notorischer Lügner und Betrüger, sondern als raffinierter, geschickter und fintenreicher Zeitgenosse, als abgebrühter, listiger Held.

Die Saat von Verbalradikalismus, Lügen und Hassreden in Verbindung mit politischer Macht ging Jahrhunderte später im Römischen Weltreich vollends auf. Das Zusammenwirken von Lügen, Hasssprache und Machtpolitik führte unablässig und mit Notwendigkeit zu kleineren und größeren gewaltvollen, innerstaatlichen und nach außen gerichteten, zum Teil langjährigen kriegerischen Auseinandersetzungen, Expansionen und frühkolonialen Unterwerfungen von Ethnien.