Lockdown-Folgen: Auch der Ethikrat lag falsch in der Pandemie

Man habe die Nöte der jungen Generation während der Pandemie zu wenig gesehen, heißt es vom Ethikrat. Die Einsicht kommt nicht nur sehr spät, sie ersetzt auch keine ernsthafte Aufarbeitung. Der Kommentar.

Die Coronapandemie neigt sich dem Ende zu. Einiges spricht dafür, nicht zuletzt die jüngsten Aussagen von Christian Drosten. Der Berliner Virologe sagte gegenüber Die Zeit, die Dynamik der Infektionswellen in diesem Jahr sei "das Zeichen für das kommende Ende der Pandemie". Für das Virus werde die Lage prekär.

Spätestens mit dem Ende der Pandemie wäre eigentlich der Moment gekommen, mit der Aufarbeitung der letzten zweieinhalb Jahre zu beginnen. Wichtige Fragen gilt es, zu klären: Welche Maßnahmen waren gerechtfertigt? Sind wir als Gesellschaft bereit, auch ihre negativen Folgen zu akzeptieren? Wer trägt die Verantwortung, wenn Grenzen überschritten wurden?

Gerade bei der letzten Frage drängt sich der Eindruck auf, kein Entscheidungsträger und keine Institution wird die Verantwortung freiwillig übernehmen.

Klammheimlich und etwas verdruckst habe die Politik ihre Haltung geändert, konstatierte kürzlich der Publizist René Schlott im Deutschlandfunk Kultur. Man habe still und leise die verfassungsrechtlichen Prinzipien, Eigenverantwortung und Verhältnismäßigkeit, wieder entdeckt. Aber:

Vom selbstkritischen Hinterfragen der bisherigen Corona-Politik, gar einer Entschuldigung bei Kritikern und Geschädigten, und dem Willen zur ehrlichen Aufarbeitung der letzten zweieinhalb Jahre keine Spur.

René Schlott

Für Fehleinschätzungen möchte sich auch der Deutsche Ethikrat nicht entschuldigen, auch nicht dafür, dass sich das Gremium zu spät für die Belange von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie interessiert haben könnte.

Die Vorsitzende des Gremiums, Alena Buyx, erklärte nun vor der Berliner Bundespressekonferenz: Hinter einer Entschuldigung stecke das Eingeständnis, "man wäre schuldig geworden". Der Ethikrat habe aber jungen Menschen nie schaden wollen, sagte sie, als sie die jüngste Stellungnahme vorstellte.

Diese trägt den etwas sperrigen Titel: "Pandemie und psychische Gesundheit. Aufmerksamkeit, Beistand und Unterstützung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in und nach gesellschaftlichen Krisen"; und sie wurde am Montag veröffentlicht.

Nur im Ansatz war Buyx bereit zu einer kritischen Selbstreflexion: "Wir haben zwar immer wieder auf die Jüngeren hingewiesen, aber eben doch zu wenig." Man habe "sie nicht ganz stark in einen eigenen Fokus genommen".

Nach zweieinhalb Jahren Pandemie ist das nur eine schwache Antwort auf die Frage, weshalb der Ethikrat nicht früher tätig wurde. Schließlich hatten bereits im Frühjahr 2021 Studien auf die Schäden bei Kindern und Jugendlichen verwiesen, die durch einige Coronamaßnahmen verursacht wurden.

Im Mai 2021 hatte etwa die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen veröffentlicht. Darin wurde eine weltweite Zunahme von Depressionen und Angststörungen belegt.

Damals hatte auch Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Zürich, eine Studie zu den Folgen des ersten Corona-Lockdown vorgestellt. Auch hier wurde eine Zunahme von Depressionen und Angststörungen, von sozial auffälligem Verhalten und Mediensucht konstatiert.

Im April 2021 hatte eine Studie der Technischen Universität Dortmund gezeigt, dass Distanzlernen an deutschen Schulen eher selten ist. Dass viele Kinder beim Lernen zurückbleiben würden, war damals schon absehbar.

Über die Zunahme von körperlicher und sexueller Gewalt wurde berichtet sowie von psychischer Misshandlung. All‘ das hätte der Ethikrat schon im vergangenen Jahr wahrnehmen können, wenn er gewollt hätte. Und die hier aufgeführten Studien sind nur ein Ausschnitt dessen, was publiziert wurde.

Was Wissenschaftler in den vergangenen Jahren nicht vermochten, schafften nun 350 Schüler: Sie erzählten den Mitgliedern des Ethikrats von ihren Erfahrungen. Im Interview mit tagesschau.de sagte Buyx:

Die Jugendlichen haben uns das erzählt, ganz kreativ, sehr eindrücklich, sehr ehrlich, auf ganz unterschiedliche Art und Weise, mit Filmen, mit kleinen Sketchen, mit Poetry Slams. Und das hat uns wirklich zutiefst beeindruckt.

Alena Buyx

Offenbar hat erst das dazu beigetragen, dass sich der Ethikrat für die einschlägigen Studien interessierte. Dazu Buyx:

Sie haben uns erzählt, was uns dann auch die Expertinnen und Experten aus der Literatur, aus den Studien, aus den Daten bestätigt haben.

Der Schaden ist jedoch eingetreten und viele Kinder und Jugendliche haben heute noch immer mit den Folgen der Kita- und Schulschließungen sowie der Einschränkungen zu kämpfen, die sie erdulden mussten.

Das Wegschauen des Ethikrats befreit ihn nicht von der Schuld. Die Fakten lagen auf dem Tisch – aber man wollte sie nicht sehen. Was hätte es mehr gebraucht als den Willen, seine Stimme zu erheben? Aber der Ethikrat schwieg viel zu lange.

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