"Die Medizin wird vollständig digitalisiert"

Der US-Biologe Leroy Hood sprach mit Technology Review über seine Vision der "P4-Medizin", die Rolle der Informationstechnik und die gesellschaftlichen Folgen der anstehenden medizinischen Revolution.

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Von
  • Emily Singer

Leroy Hood hat bei einigen Paradigmenwechseln in der Biologie mitgemischt. Er war in den 1980ern an der Erfindung der ersten automatischen DNA-Sequenziermaschine beteiligt sowie an einigen anderen Technologien, die die Biologie verändert haben. Im Jahre 2000 gründete er das multidisziplinäre Institute for Systems Biology in Seattle. Dessen Mission ist, die Informationsverarbeitung in biologischen Systemen besser zu verstehen. Nun ist er dabei, neue Erkenntnisse aus der Bioinformatik auf die Medizin zu übertragen, um Diagnose, Prävention und individuelle Behandlungsverfahren voranzubringen.

Jeder Durchbruch, an dem er beteiligt war, sei erst einmal mit Skepsis aufgenommen worden, sagt Hood. Anfangs hätten viele das Humangenom-Projekt abgelehnt. Gegen diese Vorbehalte würden nur Forschungsergebnisse helfen. Sein letzter Streich ist die Gründung des Start-ups Integrated Diagnostics , das helfen will, Krankheiten in einem frühen Stadium zu erkennen, wenn die Aussichten auf Heilung noch besser sind. Außerdem hat er eine Kooperation zwischen dem Institute for Systems Biology und der Ohio State Medical School angestoßen, in der verschiedene Technologien aus Medizin und Genomik miteinander verbunden werden sollen.

Die elektronischen Patientenakten, für die sich die Gesundheitsindustrie derzeit stark einsetzt, hält Hood nur für einen von vielen Aspekten, mit dem die Bioinformatik die Medizin umkrempelt. Die Pharmakogenetik wiederum, mit der aus der genetischen Ausstattung von Patienten individuelle Therapien entwickelt werden soll, sei nur ein Beispiel für das Riesenpotenzial der personalisierten Medizin. Technology Review sprach mit Hood über seine Vision der "P4-Medizin", die Rolle der Informationstechnik und die gesellschaftlichen Folgen der anstehenden medizinischen Revolution.


Technology Review: Wie sieht Ihrer Meinung nach die Zukunft der personalisierten Medizin aus?

Leroy Hood: Ich finde den Begriff zu eng gefasst. Ich glaube, dass es einen Wechsel von einer reaktiven zu einer proaktiven Medizin geben wird. Ich bezeichne sie als „P4“-Medizin: prognostisch, personalisiert, präventiv und partizipatorisch. Das Wohlbefinden rückt in den Vordergrund. Das bedeutet aber, man muss die Kundschaft davon überzeugen, dass diese Medizin Realität ist und existiert. Ärzte werden eine Medizin lernen müssen, die sie an der Uni nicht gelernt haben.

TR: Welche Technologien treiben diese medizinische Revolution an?

Hood: Dass das persönliche Genom in der Patientenakte dokumentiert ist, wird in schätzungsweise zehn Jahren Standard sein. Wenn wir das mit Informationen über den körperlichen Zustand kombinieren, können wir weitreichende Schlüsse auf die Gesundheit eines Menschen ziehen. Daraus können wir dann Strategien für eine individuelle Gesundheitsvorsorge entwickeln, die alles Bisherige in den Schatten stellt.

Ebenfalls wichtig sind Ansätze aus der Nanotechnik, um Proteine zu identifizieren. Wir wollen Tests entwickeln, um von 50 Organen jeweils 50 spezifische Proteine zu untersuchen. In einem Tropfen lassen sich dann 2500 verschiedene Proteine nachweisen. Wir ermitteln damit eher den Gesundheits- als den Krankheitszustand.

Das dritte technische Gebiet ist die detaillierte Untersuchung der Zelle. Wir können Transkriptome und RNAome, Proteome und Metabolome analysieren...

TR: ...also die Gesamtheit der transkribierten Gene, der Boten-RNA, der RNA insgesamt und der Stoffwechselprodukte in einer Zelle.

Hood: Diese Informationen beschreiben dann Zellzustände, die viel über normale und über Krankheitsmechanismen verraten. Ein Beispiel: Wir experimentieren gerade mit Proben aus 1000 Zellen aus einem Gehirntumor – einem Glioblastom. Für jede Zelle zeichnen wird Gentranskriptionen auf und gewinnen daraus interessante neue Erkenntnisse darüber, was eigentlich einen Tumor ausmacht.

Der entscheidende Faktor bei all dem sind Verfahren aus Informatik und Mathematik, mit denen wir atemberaubend komplexe Daten verarbeiten können. In zehn Jahren wird eine Patientenakte Milliarden Datenpunkte umfassen. Wenn wir daraus individuelle Korrelationen zwischen Genotyp und Phänotyp ziehen können, kommen wir zu fundamental neuen Erkenntnissen über eine vorausschauende Medizin. Das Problem ist aber, wo wir genügend Rechenzeit und Speicherkapazität für diese Datenmengen herbekommen.

TR: Die Informationstechnik spielt also eine entscheidende Rolle für die personalisierten Medizin?

Hood: Die Medizin entwickelt sich gerade zu einer informationsverarbeitenden Wissenschaft. Das gesamte Gesundheitssystem verlangt ein informationstechnisches Niveau, dass über die bloße Digitalisierung von Patientenakten hinausgeht – worüber die meisten Leute heute reden. In zehn Jahren gibt es zu jedem Menschen Milliarden von Datenpunkten. Der Knackpunkt ist, wie wir diese zu validen Hypothesen über den jeweiligen Menschen verdichten können.

TR: Welche Folgen hat dies über die Medizin hinaus?

Hood: Die P4-Medizin-Revolution hat meines Erachtens zwei enorme gesellschaftliche Konsequenzen. Sie wird in jedem Sektor des Gesundheitssystems die Business-Pläne umkrempeln. Wer kann sich anpassen, wer wird zum Dinosaurier? Das ist eine spannende Frage. Für Unternehmen gibt es dadurch aber Riesenchancen.

Zweite Folge: Die Medizin wird vollständig digitalisiert – wir sind in der Lage, aus einem einzigen Molekül, aus einer einzigen Zelle relevante Daten zu gewinnen. Diese Digitalisierung wird langfristig dieselben Auswirkungen haben wie die Digitalisierung der Informationsverarbeitung. Die Kosten für die Gesundheitsversorgung werden so weit fallen, dass wir sie in die Entwicklungsländer exportieren können. Das war vor ein paar Jahren noch total unvorstellbar. Eine faszinierende Aussicht.

TR: Und welche Schwierigkeiten sehen Sie bei der Verwirklichung dieser Vision?

Hood: Die größte Hürde ist die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Revolution. Wir bauen gerade das P4 Medical Institute auf. Die Ideen dahinter ist, Industriepartner zu gewinnen, die uns helfen, die P4-Medizin zu den universitätsinternen Patienten an der Ohio State University zu bringen. Die zahlt für diese Patienten und versorgt sie zugleich medizinisch. In zwei, drei Monaten wollen wir weitere Einzelheiten dazu bekanntgeben.
(nbo)