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Boom!

Ausprobiert: Harleys Infotainment-System "Boom! Box GTS"

Motorrad Clemens Gleich

In den USA kaufen Motorradfahrer bei Harley vor allem die Touring-Modelle. Deshalb bietet die Company seit langem moderne Infotainment-Systeme an. Die aktuelle Generation kommt mit schnellerer Hardware und Unterstützung für Apple CarPlay

Die Kunden der Harley-Davidson Deutschland GmbH kaufen am liebsten die unverkleideten Milwaukee-Eisen. Im Heimatmarkt USA kaufen Motorradfahrer jedoch fast ausschließlich die Touring-Modelle von Road King bis Ultra Limited. Deshalb bietet Harley dort auch ein üppiges Infotainment-System an, das sogar Apple CarPlay [1] unterstützt (Android Auto soll folgen). Wir schauen uns die neue Generation des „Boom! Box GTS“ genannten Systems einmal an.

Hardware

Gleich zu Anfang der Präsentation nannte Harleys Sprecher „schnellere Prozessoren“. Langsam setzt sich also glücklicherweise überall die Erkenntnis durch, dass es sich nicht lohnt, die Kunden mit langsamer Rechen-Hardware zu nerven, um ein paar Euro zu sparen. Die Oberfläche der Boombox bewegt sich dann auch tatsächlich flüssig und mit geringen Latenzen, wie wir sie vom Smartphone [2] gewohnt sind. In der Navi-Ansicht gibt es je nach Zoom-Stufe auch flüssig scrollende 3D-Objekte.

Die Bildschirm-Auflösung hat sich von den 400 x 240 des Vorgängersystems auf 800 x 480 Pixel erhöht. Damit fallen im üblichen Betrachtungsabstand keine Pixelraster mehr auf und die Schriften sind schön scharf. Ähnlich wie Garmin im Zumo 590 verwendet Harley einen transflektiven TFT. Das heißt, dass außer einer starken Lampe hinter den Pixeln auch eine reflektierende Schicht Umgebungslicht zurück durch die Pixelfilter auf den Betrachter wirft. Das ist zur besseren Lesbarkeit in direktem Sonnenlicht gedacht.

Es funktioniert wie bei Garmin schon, aber (ebenfalls wie bei Garmin) leider nicht ganz so gut, wie es sich anhört. Die Reflektorfolie schafft nur ein mattes Bild, das man selbst in der Sonne ähnlich gut mit aktuellen transmissiven TFTs erhielte, also Schirmen, die nur auf starke Bildschirmbeleuchtung setzen. Dazu kommt, dass die Oberfläche des Displays spiegelt, den Betrachter also bei manchen Winkeln Sonne-Gesicht blendet. Meistens ist das aber kein Thema, weil das Display in der Schatten werfenden Frontverkleidung sitzt.

Bedient wird das System über kleine Joysticks links und rechts am Lenker oder über den Touchscreen. Die Eingaben erfasst dieser kapazitiv. Damit das mit Handschuhen und im Regen funktioniert, steuert eine Software die Empfindlichkeit entsprechend. So machen das auch Outdoor-Smartphones [3]. Beim Test regnete es nicht, wir können daher nichts über Wassereignung sagen. Die Handschuhbedienung funktioniert jedoch problemlos.

Funktionsumfang

Die Boombox bringt ein Navi, ein Telefon-Interface für Gespräche über ein Helm-Headset und Audio-Ausgabe. An Audio-Quellen kennt das System USB-Massenspeichergeräte, UKW, DAB+, per Kabel angeschlossene Smartphones und Bluetooth Audio. Über Bluetooth Audio funktioniert dann zum Beispiel auch Spotify oder andere Streaming-Dienste. Im Prinzip ist alles so, wie man es aus einem modernen Auto kennt. Es flutscht auch ähnlich problemlos. Die Menustruktur könnte logischer sein, aber man lernt sie recht schnell auswendig mit ihren Eigenheiten, da Harley die Hierarchie recht flach hielt. Typische Smartphone-Gesten wie Wischen zum Scrollen oder der Pinch zum Zoomen erkennt das System wie gewohnt.

Das Navi routet mit Verkehrseingaben aus TMC. Bessere Verkehrsdaten (etwa aus der gekoppelten App) gibt es derzeit nicht. Eingaben geschehen auf dem Touchscreen, es gibt keine Sprachsteuerung. [Update:] Falsch, es gibt auch eine Offline-Sprachsteuerung. Entschuldigung für den Fehler, vor Ort hieß es "Spracheingabe nur mit Siri". Harleys eigene Spracheingabe folgt festen Befehlen mit Hierarchien und entsprechenden Auswahlanzeigen dazu. [/Update] Um die Bedienung zu erleichtern, kann der Kunde Routen oder Punkte von der Harley-App an die Boombox schicken, sobald das Telefon über Bluetooth gekoppelt ist. Das Navi liest zudem Routen von USB-Sticks ein, die in den Port gesteckt werden (“Import“-Funktion im Menu benutzen). Alles in allem ein solides System. Es kommt jedoch mit einem unerwarteten Sahnehäubchen.

Apple BikePlay

Als wir „unterstützt Apple Carplay“ lasen, dachten wir schon: „Das wird schon so ein Rotz werden.“ Auf der Goldwing konnte ich Carplay nicht ausprobieren, weil zum Test nirgends ein Bluetooth-Headset verfügbar war. Apple verlangt für Carplay aber nicht nur, dass so ein System vorhanden und gekoppelt ist, sondern auch, dass es nicht stummgeschaltet wurde. Bei Harley muss der Kunde das „Wireless Headset Integration Module“ WHIM für 335,50 Euro plus eine Stunde Mechanikerzeit kaufen, damit diese Bedingungen überhaupt erfüllt werden können.

Ganz ehrlich: Wir mussten ein bisschen fummeln und fluchen, bis es lief. Tipp: Audio stumm schalten über den Knopf rechts vom Bildschirm verhindert den Start von Carplay. Als es dann lief, überraschte mich das System jedoch damit, wie gut es zum Motorradfahren passt. Es startet, sobald alle Startvorbedingungen erfüllt sind und ein kompatibles iPhone per USB angeschlossen wurde. Dann kann man zwischen Harley-Systemen und Carplay beliebig wechseln.

Apples Vorgaben mit „Sprachsteuerung first“ passen am Motorrad wahrscheinlich noch ein bisschen besser als im Auto. Ich habe mich mit Google Maps routen lassen, Musik gesteuert und ein paar Whatsapp-Nachrichten mit zuhause ausgetauscht. Die Spracheingabe dazu funktionierte unerwartet gut, obwohl das Mikrofon voll im Wind hing. Leider weiß ich nicht, an welchem Punkt die Störgeräusche herausgefiltert werden, das Ergebnis kann also mit anderen Headsets anders aussehen. Ich habe Harleys Headset verwendet, ein gebrandetes System des Herstellers Sena. Hoffentlich folgen andere Hersteller dem Vorbild von Harley und Honda. Sprachsteuerung am Motorrad ist super.

Zubehör und Updates

Harley hat gesagt, die Kunden sollen für Updates der Boombox zum Händler gehen, der sie ihnen einspiele. Auf der deutschen Website bietet Harley jedoch auch Images der jeweils neuesten Software-Version zum Herunterladen an, zusammen mit einer Anleitung, wie der Kunde sie über einen USB-Stick installiert – wie bei den Vorgänger-Versionen der Boombox. Da können Sie also wahrscheinlich einen Gang in die Werkstatt sparen oder zumindest einen Punkt auf der Rechnung. Es gab am 3. März 2019 ein Update.

Interessant fand ich vor allem eine Social-Funktion fernab von Whatsapp: Sena erlaubt, bis zu acht Helme miteinander zu koppeln, damit man sich in der Gruppe unterhalten kann. Wenn alle nicht nur diese Helme, sondern auch eine Boombox mit WHIM hätten, könnte sich eine nach Harleys Aussagen beliebig große Gruppe über bis zu 5 Kilometer entlang ziehen und dennoch könnte jeder mit jedem sprechen.

Die Module bilden dabei eine Kette, die Gesprächsdaten zu allen Teilnehmern durchreicht. Es bleibt das Reichweitenlimit des Bluetooth-Funks: Die Abstände zwischen einzelnen Teilnehmern dürfen weiterhin nicht zu groß werden, und wer sich abhängen lässt, muss auf sein Telefon zurückgreifen. Mangels WHIM-Einheiten und Headsets konnten wir dieses spannende Versprechen von Harley nicht ausprobieren. Vielleicht ergibt sich in der nächsten Zeit eine Gelegenheit.


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