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Fahrbericht Ducati Panigale V4 S

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Fahrbericht Ducati Panigale V4 S

Lammfromm, brutal und unglaublich agil. Die Vierzylinder-Ducati ist eine Rennmaschine für die Straße, der man kaum Kompromisse anmerkt. Das feinfühlige Fahrwerk ist eine Offenbarung und eine hellwache Elektronik zähmt die brachiale Gewalt des Motors

Ich gebe zu, zunächst entsetzte mich Ducatis Plan, seinen legendären V2 in der Panigale durch einen V4 zu ersetzen. Wie konnten sie nur? Der V2 – in der letzten Ausbaustufe satte 1285 Kubikzentimeter groß – war eine über Jahrzehnte gereifte Ikone, Leitbild aller Ducatisti, ihn auch nur anzuzweifeln ein Sakrileg.

Ducati will den Titel

Aber Ducati wollte endlich wieder den Superbike-WM-Titel holen und gegen die Power der vierzylindrigen Konkurrenz war der Zweizylinder aus Bologna zum Schluss machtlos gewesen. Immerhin beruhigte es etwas, dass die neue Ducati V4 sehr dicht am Design der wunderschönen Panigale 1299 [1] blieb. Der 90-Grad-V4 mit 1103 Kubikzentimetern Hubraum [2] leistet 214 PS. Der V2 in der 1299 Panigale R Final Edition war aber mit 209 PS nur unwesentlich schwächer und sie wog laut Hersteller acht Kilogramm weniger als die Panigale V4. Außerdem brachte es die 1299 Panigale R auf brachiale 142 Nm bei 9000/min, die Neue [3] belässt es bei 124 Nm und braucht dafür auch noch tausend Kurbelwellenumdrehungen mehr.

Liebgewonnene Klischees sollte man nicht zu lange mit sich herumtragen und die nackten Zahlen geben die Realität oft nur unzureichend wieder. Also eine Probefahrt. Ducati stellte uns eine Panigale V4 S zur Verfügung. Die S-Variante bietet im Gegensatz zur Basis-Panigale ein semi-aktives Öhlins-Fahrwerk, geschmiedete Alu-Felgen, eine Lithium-Ionen-Batterie und wiegt ein Kilogramm weniger. Ducati beschreibt den Stil als „elegant, muskulös, technologisch“. Wir finden, es sieht gelungen aus.

Wie ein Gewitter im engen Tal

Doch was nach dem Drücken des E-Starters passiert, klingt, als ob sich ein Gewitter in einem engen Tal austobt. Die V4 S donnert mit eingetragenen 107 dB(A) im Stand vor sich hin. Eindrucksvoll – aber die Nachbarn! Bloß weg hier, bevor es Ärger gibt. Während der Fahrt wird die Ducati zwar immer noch nicht gerade leise, aber doch wesentlich sozialverträglicher.

Überraschung Nummer zwei: Die Sitzposition ist zwar sportlich, aber weit entfernt von der früheren Kasteiung, zu der einem die tiefen Lenkerstummel und die hohe Sitzbank in Verbindung mit einem langen Tank einst zwangen. Ducati gestaltete den kompakten 16-Liter-Tank an der Panigale V4 recht kurz, sodass der Oberkörper nicht ganz so weit vorgebeugt werden muss.

Der Vierer kann lammfromm sein

Bereits in der Stadt offenbart sich der große Unterschied zur alten Panigale mit V2-Motor: Der V4 lässt sich selbst im vierten Gang lammfromm mit Tempo 50 bewegen. Der Zweizylinder hätte bei der Aktion wütend gebockt wie ein Pferd beim Rodeo. Die Laufkultur des V4 ist um Welten besser, der Motor geht präzise, aber butterweich ans Gas und zieht selbst aus dem Drehzahlkeller sauber raus. Wenn der Fahrer es wollte, könnte er im sechsten Gang von Tempo 50 bis auf 299 km/h beschleunigen. Allerdings entwickelt sich im Stop-and-go-Verkehr der Innenstadt eine enorme Hitze vom fetten Krümmer her, der sich direkt unter der Sitzbank windet. Die Panigale hat sozusagen serienmäßig eine Sitzheizung.

Der V4 ist in Zusammenarbeit mit der hauseigenen Rennabteilung Ducati Corse entstanden, die den MotoGP-Motor konstruiert hat. Daher hat Ducati schon jahrelange Erfahrung mit der 90-Grad-V4-Bauweise, die den Vorteil von ausgeglichenen Massenkräften bietet, was die Ausgleichswelle zur Eliminierung von Vibrationen und somit auch Gewicht erspart. Außerdem dreht die Kurbelwelle wie im MotoGP-Bike rückwärts, was schnelle Richtungswechsel erleichtert und die Wheelie-Neigung verringert.

Nahe am MotoGP-Motor

Natürlich weiß Ducati, dass seine Kunden sehr Racing-affin sind und wählte daher wie im MotoGP-Motorrad Desmosedici einen Hubzapfenversatz von 70 Grad und eine Twin-Pulse-Zündfolge, die den sogenannten „Big-Bang-Motor“ ausmachen. Tatsächlich ist der Klang gar nicht soweit vom V2 entfernt. Im Zylinderkopf blieb Ducati bei der Zwangssteuerung der Ventile, entwickelte die Desmodromik für die V4 aber neu, um möglichst schmale und leichte Zylinderköpfe zu bekommen. Ducati wählte Ventile aus Stahl und nicht aus Titan, die Einlassventile mit 34 Millimetern Durchmesser, die Auslassventile 27,5 Millimetern, was bei einer Bohrung von 81 Millimeter durchaus beachtlich ist. Nur 53,3 Millimeter Hub senken die Kolbengeschwindigkeit und erlauben ein ordentliches Drehvermögen. Ducati setzt die Drehzahlgrenze im sechsten Gang erst bei astronomischen 15.000/min, in den fünf Gängen darunter endet die Drehfreude bereits 500 Umdrehungen früher.

Semi-aktiv, aber voll Feingefühl: das Fahrwerk

Die Panigale V4 verabschiedet sich vom Monocoque ihrer zweizylindrigen Vorgängerin und setzt auf einen Aluminium-Frontrahmen, der nur vier Kilogramm wiegt und den V4-Motor als tragendes Element einbezieht. Er bietet den Vorteil, dass Verwindungs- und Längssteifigkeit auseinandergehalten werden. Die Panigale V4 S erhielt eine Öhlins-NIX30-Gabel, ein Öhlins-TTX36-Federbein und einen Öhlins-Lenkungsdämpfer. Die Dämpfung wird durch die jüngste Generation des Öhlins Smart-EC-2.0-Systems geregelt, soll heißen, sie funktioniert semi-aktiv, die Zug- und Druckstufe wird elektronisch angewählt – die dynamische Veränderung übernimmt der Computer.

Erstaunlich handlich und gutmütig

Die Panigale V4 S rollt auf Pirelli-Diablo-Supercorsa-Reifen in SP-Mischung, auf der hinteren Sechs-Zoll-Felge sorgt ein gewaltiger 200er-Reifen für Grip. Das semi-aktive Öhlins-Fahrwerk gehört zur absoluten Referenzklasse und spricht sehr feinfühlig an. Die vollgetankt 201 Kilogramm schwere Panigale V4 S erweist sich als erstaunlich handlich, was bei Ducati lange Zeit keine Selbstverständlichkeit war. Früher galten die Superbikes aus Bologna zwar als absolut kurvenstabil, mussten aber mit Nachdruck in Schräglage gebracht werden. Ganz anders das neue Vierzylinder-Bike, obwohl der Radstand im Vergleich zur letzten V2-Panigale um über 30 Millimeter auf 1469 Millimeter gewachsen ist. Zu verdanken hat sie das vor allem der langen Einarmschwinge. Die Panigale V4 S zeigt sich für ein Superbike nicht nur gutmütig, sondern als geradezu agil. Ihr Lenkkopfwinkel von 65,5 Grad und ein Nachlauf von 100 Millimeter unterstützen schnelle Schräglagenwechsel in Kurvenkombinationen. Dabei lässt sich die Ducati präzise einlenken und bleibt völlig ruhig auf Kurs, Nervosität ist ihr fremd.

Drei Modi, von denen man zwei fast nie braucht

Es gibt drei Fahrmodi, die sich mit Hilfe zweier Schalter am linken Lenkerende und über das fünf Zoll große, farbige TFT-Display ansteuern lassen: Street, Sport und Race. Von letzterer Einstellung sollte man tunlichst die Finger lassen, es sei denn man heißt Alvaro Bautista und fährt in der Superbike-WM. Selbst der Sport-Modus setzt schon sehr hohe Fähigkeiten in der Fahrzeugbeherrschung voraus. In den allermeisten Fällen empfiehlt sich der Street-Modus. Hier erweist sich das Fahrwerk als überraschend kommod, Löcher im Asphalt werden nicht ungefiltert in die Handgelenke weitergegen. Natürlich ist die Abstimmung immer noch straff, was bei der gebotenen Motorleistung auch ratsam ist.

Die komplexen elektronischen Assistenzsysteme der Panigale V4 S hier alle detailliert zu erläutern, würde den Rahmen sprengen. Daher zähle ich sie hier nur kurz auf: Kurven-ABS, Antriebschlupfregelung (sog. „Traktionskontrolle“), Slide-, Launch-, Wheelie-Regelung und Motorbremsmoment, alle mehrstufig einstellbar. Kleiner Tipp: Am besten bei allen elektronischen Assistenzsystemen die größtmögliche Hilfe zulassen, denn hier gilt es, einen brutalen Rennmotor zu zügeln.

Für die Leistung sind die Geraden zu kurz

Es ist schwer in Worte zu fassen, wie es ist, ein 214-PS-Motorrad auszufahren. Die Leistungsfähigkeit des Motors übertrifft die aller Superbikes, die ich bisher gefahren bin – und das waren schon einige. Der zivile Ducati-V4 profitiert natürlich von 103 Kubikzentimeter Hubraumplus gegenüber den Reihenvierzylindern, die es bei einem Liter belassen. Nicht nur die Höchstleistung, sondern auch der Drehmomentverlauf liegt oberhalb der 1000er aus Japan. Möglicherweise kann die neue, 207 PS starke BMW S 1000 RR (Test) [4] mit ihren variablen Steuerzeiten [5] gegenhalten, aber der Test stünde noch aus. Wirklich ausreizen kann man die gewaltige Power der Ducati nur auf der Rennstrecke und selbst da fällt es schwer, die volle Leistung abzurufen.

Ohne die vielen elektronischen Helfer wäre die Panigale V4 wohl kaum fahrbar. Wer Antriebschlupfregelung und Slide-Control abschaltet, wird im besten Fall ein permanent durchdrehendes Hinterrad erleben, viel wahrscheinlicher aber in der ersten Kurve per Highsider abfliegen. Ohne den Wheelie-Verhinderer würde dem Fahrer noch bei 130 km/h der Lenker ins Gesicht knallen. Die Panigale V4 S bis zur von Ducati angegebenen Höchstgeschwindigkeit von 299 km/h zu treiben, ist sogar auf den meisten Rennstrecken kaum möglich, weil dafür die Geraden zu kurz sind.

Topspeed-Versuch

Ich mag es nicht, auf Autobahnen schnell zu fahren, das verursacht nur Stress. Andererseits verspüre ich natürlich die Pflicht, die behaupteten 299 km/h auch einmal zu fahren. Ich suche mir daher eine dreispurige Autobahn zu einer Tageszeit aus, zu der kaum Verkehr herrscht. Man kann mit der Panigale V4 S entspannt bei Autobahnrichtgeschwindigkeit im sechsten Gang dahingondeln, der Motor schnurrt zufrieden vor sich hin und die stark gewölbte Scheibe hält den Fahrtwind recht gut vom Oberkörper fern. Die Rückspiegel vibrieren leider ziemlich, andererseits wird sich der Ducati gleich ganz sicher kein Fahrzeug von hinten nähern. Einmal atme ich noch tief durch und schalte einen Gang runter, was dank des Quickshifters sogar ohne Ziehen des Kupplungshebels funktioniert, und drehe den Gasgriff auf Anschlag.

Die Panigale reißt den Asphalt unter sich weg

Was dann passiert ist atemberaubend. Die Panigale beschleunigt nicht einfach, sie macht einen Satz nach vorne, scheint den Asphalt unter sich wegzureißen. Einen Wimpernschlag später überspringt der Tacho die 200, die Ducati reißt es weiterhin vorwärts als wäre sie gerade erst von der Ampel gestartet. Ich presse mich flach auf den Tank. Ein rotes Flackern aus dem Cockpit ermahnt mich hochzuschalten, der Drehzahlmesser zeigt in Nullkommanix den roten Bereich bei 14.500 U/min an.

Kurz mit dem Fuß gegen den Schalthebel getippt und der Quickshifter legt in wenigen hundertstel Sekunden den sechsten Gang nach. Alles rechts und links fliegt im Zeitraffer an mir vorbei, jenseits der 250 km/h konzentriere ich mich auf das Ende der Fahrspur am Horizont. Das digitale Cockpit wechselt rasend schnell die Zahlen: 270, 280, 290... und da ist sie, die 299. Mehr wird der Tacho nicht anzeigen. Es gibt ein freiwilliges Agreement der Motorradhersteller, dass sie keine Serienmotorräder bauen, die 300 km/h fahren. Ich persönlich habe zwar das Gefühl, da ginge bei der Panigale V4 S noch mehr, aber ohne Messgerät kann ich den Eindruck natürlich nicht nachprüfen.

Was mir aber auch ziemlich wurscht ist, denn 299 km/h ist mehr als man irgendwie noch im Straßenverkehrt rechtfertigen könnte und mir geht gehörig die Muffe. Ich ziehe kurz die Bremse und die Stylema-Bremszangen von Brembo vernichten sofort Unmengen an Energie. Die leichten High-End-Stopper kommen auch in der Superbike-WM zum Einsatz und sind momentan wohl das Beste, was auf dem Markt für Motorräder erhältlich ist. Ich setze den Blinker nach rechts, lasse die Geschwindigkeit auf beschauliche 120 km/h absinken und versuche auch meinen Puls wieder runterzufahren.

Für die Rennstrecke konzipiert

Um das nochmal ganz klar zu sagen: Die Panigale V4 S wurde für die Rennstrecke konzipiert. Ducati entwickelte Motor, Rahmen, Fahrwerk und Chassis nur zu dem Zweck, möglichst schnelle Zeiten auf einem geschlossenen Rundkurs zu erzielen. Insofern ist es erstaunlich, dass sich die Panigale V4 S auch im Alltag noch halbwegs angenehm bewegen lässt. Die Laufkultur des V4 ist sogar vorbildlich. Auf der Landstraße bereitet sie mit ihrer Handlichkeit viel Freude, in der Stadt wird ihre Sitzposition allerdings schnell unbequem und die Beine des Fahrers von der Hitze des Krümmers gegrillt.

Für die Panigale V4 S verlangt Ducati 28.390 Euro. Das sind 6100 Euro mehr als für die Basis-Panigale V4, aber in Anbetracht des superben semi-aktiven Öhlins-Fahrwerk jeden Cent wert. Wem die V4 S noch nicht radikal genug ist, kann zur V4 R greifen, Kostenpunkt: 39.900 Euro. Die R-Version verfügt zwar nur über 998 Kubikzentimeter, um die Homologation für die Superbike-WM zu erfüllen, leistet aber heftige 221 PS, wiegt trocken 172 Kilogramm und dreht bis zu irrwitzigen 16.000/min. Für die Rennstrecken-Junkies hält Ducati noch einen Racing-Kit bereit, der die Leistung auf schwindelerregende 234 PS schraubt und das Gewicht auf 165,5 Kilogramm reduziert.


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[3] https://www.heise.de/autos/artikel/Vorstellung-Ducati-Panigale-V4-R-4239813.html
[4] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-BMW-S-1000-RR-4489985.html
[5] https://www.heise.de/autos/artikel/Nockenwellenreiter-1828417.html