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Flagge aus Gummirauch

Fahrbericht Kia Stinger GT

Fahrberichte Clemens Gleich
Kia

"Wer soll das denn kaufen?", fragten die meisten Autofreunde, als sie Bilder von Kias Stinger sahen, denn die Bilder verrieten es nicht. Man muss ihn fahren, dann ist die Antwort glasklar: Freunde der Fahrdynamik

In der Hyundai Motor Group wurde Kia immer als die Marke mit der Prise mehr Lebensfreude beworben. Es gab nur kein Auto, das diese Aussage unterstrichen hätte. Bis jetzt. Auftritt Kia Stinger: Ein Auto, dem man am gelungenen, aber gesetzten Schreyer-Design nicht ansieht, wie sehr sich die Arbeit der koreanischen Ingenieure in Sachen Fahrbarkeit gelohnt hat. Der Stinger gehört zu meinen Geheimtipps.

Ob Kias Plan aufgeht, muss die Zeit zeigen. Markenbildung, das lehrt die Geschichte, ist ein zäher, langwieriger Prozess. „Wer soll das denn kaufen?“ in vielen Variationen hört man dann auch am häufigsten zum Kia Stinger. Die Frage impliziert, dass niemand so einen Wagen haben möchte. Ich kann mir schon vorstellen, wer so einen Wagen mögen könnte: Autofreunde, denen das Fahren sehr wichtig ist, die Marke aber nicht. Eben diese kleine Zielgruppe soll Kias metaphorische Markenflagge bei ihren Stinger-Fahrten zeigen.

Anfängerkönnen

Dass Kia sich Fahrdynamiker holt, die ihr Auto auf europäische Art zu einem guten Chassis führen, war klar. Was bei solchen Projekten häufig weniger klar ist: Wie gut das gebotene von Endkunden dann auch genutzt werden kann, also die Bedienbarkeit, das Nutzer-Interface an Lenkrad und Pedalen. Ebendies ist so gut gelungen, dass es unser Grund war für diesen zweiten, ausführlicheren Fahrbericht. Wie einfach sich Kias ja doch recht groß und schwer gewordener Karren dirigieren lässt, war eine große, freudige Überraschung für mich. Das Heck fährt unter dir heraus, ein Schlenker der variablen unterstützten Lenkung sortiert das wieder ein. Auf dem Modus „Sport+“ darf das Heck schon so weit aus der Spur fahren, dass die meisten weder merken werden noch je brauchen, dass man das ESP auch komplett abschalten kann (einige Sekunden auf dem ESP-Aus-Knopf bleiben, bis eine zweite ESP-jetzt-aber-wirklich-aus-Lampe leuchtet). Erst wenn der ausladende Hintern des Stinger mit dem Schwung eines versehentlichen Scandinavian Flick überholen will, kommt der ESP-Hammer herunter. Dann hättest du da aber komplett ohne ESP mindestens genausoviel Zeit auf die Runde verloren. Alles sehr gut.

Sie haben es sicherlich schon herausgelesen: Kia baut den Stinger erst einmal grundsätzlich mit Standardantrieb (Hinterradantrieb mit Motor vorne). Das große V6-Modell mit 370 PS gibt es bei uns nur mit dem Allradantrieb. Der gibt bedarfsweise die Vorderachse per Lamellenkupplung Drehmoment auch auf die Vorderachse, wenn hinten Schlupf entsteht. In den Sportmodi liegt die Kraftverteilung standardmäßig auf ca. 80 Prozent hinten. Die Antriebsvariante ohne Allrad gibt es bei uns in den kleineren Modellen, einem 255-PS-Benzin-Vierzylinder und einem 200-PS-Vierzylinder-Diesel (beides Turbomotoren); den Diesel gibt es wahlweise auch mit Allrad. Beim reinen Hinterradantrieb legt Kia noch ein mechanisches Sperrdifferenzial drauf, das alle Journalisten nach dem V6 mit nur Hinterradantrieb schreien ließ, den der Konzern in anderen Märkten anbietet. Warten wir ab, was deutsche Kunden schreien, vielleicht kriegen wir den ja doch noch.

Selbst die Bremsen blieben auf dem zugegebenermaßen kleinen Kurs fester, als ihre Größenrelation zur Autogröße und vor allem zum immensen Gewicht (über 1900 kg) vermuten ließe. Gute Lüftung? Egal, funktioniert. Mich hat nur im normalen Verkehr gestört, dass das Bremsservo zu Beginn des Pedalwegs überproportional stark zuzieht, was die ganz leichten Bremsungen unnötig schwerer dosierbar macht.

Um sicherzustellen, dass mein Eindruck der einfachen Fahrbarkeit nicht am Ende am Allradantrieb lag, der das Auto auf den eingelenkten Vorderrädern wieder gerade zieht, fuhr ich auch den Standardantrieb mit allen Fahrhilfen deaktiviert auf dem Rundkurs. Das war nur teilweise eine Ausrede, um mehr der bei Autoterminen notorisch knappen Rennstreckenfahrzeit abzustauben. Es zeigte nämlich, dass die These stimmt: Fahrwerk und Bedienung sind so harmonisch, dass der Wagen selbst ohne Helfer bemerkenswert zahm reagiert, auch wenn das Heck herumschwingt. Die Schwierigkeit für den Fahrer liegt auf der erheblich kleinerer Fahrzeuge, nur ohne deren damit einhergehende potenzielle Fiesheit kurzer Radstände. Top. Wahrscheinlich beruhigt bereits die Größe und Masse das Ganze. Trotzdem muss es gut gemacht sein, denn es gibt durchaus schwerere, größere Autos, die deutlich schnellere Reaktionen verlangen.

The Grand Tour

Wahrscheinlich verwendete Kia den großen V6 als hauptsächlichen Testmotor, denn mit ihm stimmt die Gewichtsbalance am besten und das Automatik-Getriebe arbeitet am harmonischsten. Ein GT-Wagen soll der Stinger sein, also Fahrdynamik mit Langstreckenkomfort vereinen. Das gelingt ihm sehr gut. Ich sitze sehr gut, man kann sogar die seitlichen Seitenwangen des Sitzes so weit aufblasen lassen, dass selbst ich nicht mehr zwischen ihnen hin und her schlackere wie ein Besenstiel in einem Schiffsflur bei Seegang, was bei Sitzen, die allen passen müssen, mein Schicksal bleibt.

Serienmäßig verbaut: ein hochauflösendes, farbiges, großes HUD, das direkt auf die Windschutzscheibe projiziert statt auf eine Hilfsscheibe [1]. Tachoeinheit und Mittelkonsole ohne Überraschungen, aber eben auch ohne negative Überraschungen: Ich habe alles ohne Probleme gefunden, vom UKW-Radio bis hin zu Android Auto oder Apple Car Play. Sehr wichtig für die Langstrecke: die Sound-Anlage. Die hat Kia zusammen mit Zulieferer Harman Kardon abgestimmt, mit einem sehr harmonischen, klaren Klangergebnis, das sicher auch an der Innenraumgröße liegt. Unter den Vordersitzen liegt auf jeder Seite ein Subwoofer mit Resonanzraum im Rahmen, wie es unter anderem auch Daimler in manchen Modellen baut. Ergebnis: Sehr schöne Bässe ohne Schnarren bei höheren Schallleistungen.

Niedrigqualitatives Audio putzt die Anlage auf Wunsch in den Höhen auf („Clarify“), indem es diese ausgehend vom Ursprungsmaterial extrapoliert und hinzufügt. Das funktioniert in Echtzeit auch für analogen Input und hilft bei Eingangssignalen, denen es entweder an Aufnahmequalität, Sampling- oder Bit-Rate fehlt (wie etwa bei US-Digitalradiosendern verbreitet). Dazu kommt eine Fahrgeräusch-Anpassung, die auf Wunsch nicht nur die Lautstärke anhebt, sondern alle Frequenzbereiche dem Fahrgeräusch so anpasst, dass ein möglichst gleichbleibender Höreindruck entsteht. Beispiel: Es hebt gegen dumpfe Windgeräusche die Bässe an. Kann man einschalten und für immer drinlassen. Dem künstlich verstärkten Motorsound kann man die umgekehrte Behandlung angedeihen lassen, obwohl man zumindest nicht hört, dass ein Teil des Geräuschs ein Fake ist.

Kosten für Reise und Probefahrt wurden vom Hersteller übernommen.


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