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Gewisse Freiheiten

Fahrbericht: Mercedes AMG GT R Pro Coupé

Fahrberichte Wolfgang Gomoll

Der Mercedes AMG GT R Pro ist ein Rennwagen mit Straßenzulassung und sicher ein technisches und fahrdynamisches Highlight. Die vielfältigen Einstellmöglichkeiten des Fahrwerks und ein Playstation-Cockpit inklusive Schlupfregelungs-Drehrad machen ihn auf fast allen Pistenverhältnissen schnell

Der Mercedes AMG GT R Pro ist ein Rennwagen mit Straßenzulassung und sicher ein technisches und fahrdynamisches Highlight. Die vielfältigen Einstellmöglichkeiten des Fahrwerks und ein Playstation-Cockpit inklusive Schlupfregelungs-Drehrad machen ihn zwar auf fast allen Pistenverhältnissen schnell. Der Preis des fetten V8 ist freilich ein hohes Gewicht.

Draufbleiben oder leicht lupfen? Der Rechtsknick des Hockenheimrings in Richtung Mercedes Tribüne lässt normalerweise eine solche Frage nicht zu. Schnell? Ja! Aber volles Rohr? Lieber nicht, falls man nicht mit der Auslaufzone oder – noch schlimmer – mit der Leitplanke Bekanntschaft machen will. Beim Mercedes AMG GT R Pro handelt es sich um kein normales Auto, sondern um eine Rennmaschine mit Straßenzulassung, die unglaublich viel Vertrauen einflößt und suggeriert, dass nichts schieflaufen kann. Dennoch beherzigen wir den Rat des Rennprofis Bernd Schneider und heben den rechten Fuß leicht an, ehe es durch den Knick geht.

Selbst bei diesem Affenzahn bleibt der 4,55 Meter lange Front-Mittelmotor-Wagen die Ruhe selbst. Der AMG GT R Pro macht alles nochmal einen Schuss besser als der ohnehin schon sehr gute Mercedes AMG GT R. Unglaublich wie leichtfüßig und präzise sich der mächtige, über zwei Meter breite Vorderwagen in die Kurve dirigieren lässt.

Gelungene Balance

Ein sichtbar neu gestalteter Frontsplitter bringt zusätzlichen Anpressdruck. Bei 250 Km/h sind es 67 Kilogramm vorne (33 Kilogramm sind es dank Heckflügel hinten). Das macht sich natürlich in Grip bemerkbar. Doch wurde der mit Augenmaß zugeteilt. „Wir wollten nicht zu viel Gewicht auf die Vorderachse bringen“, erklärt AMG-Techniker Axel Wollesen. Das Ausbalancieren des Schwaben-Pfeils ist gelungen.

Dazu kommt das Gewindefahrwerk, das eine ideale Spielwiese für Abstimmungstüftler ist. Federn und Dämpfer können mechanisch justiert werden. Bei den Dämpfern von KW können nicht nur Zug- und Druckstufe dem Kurs angepasst werden, bei der Druckstufe wird zudem noch zwischen höheren Geschwindigkeiten und niedrigen Geschwindigkeiten unterschieden, also langsamen und schnellen Einfederbewegungen. Das geschieht per Drehrad im Motor- oder im Kofferraum und beeinflusst das Nicken und Wanken der Karosserie und so mittelbar auch die Traktion.

Das ist noch nicht alles: Der verstellbare Drehstabilisator an der Vorderachse besteht aus leichtem, Karbonfaserkunststoff, der hintere aus Stahlrohr ist justierbar. Beim Pro R-Modell sind hinten auch an den oberen Querlenkern spielfreie Uniball-Gelenklager [1] montiert, um die Elastizität zwischen Radlager und Federung möglichst stark zu reduzieren. Sinn der Übung sind möglichst ruhig auf dem Asphalt liegende Reifenlaufflächen, um eine bestmögliche Kraftübertragung zwichen Fahrzeug und Piste zu erreichen. Sie garantiert höchste Kurvengeschwindigkeiten, kürzeste Brems- und Beschleunigungszeiten.

Ein Schubfeld aus Kohlefaserkunststoff am Wagenboden nimmt die Kräfte aus den Radaufhängungen auf und erhöht damit die Verwindungssteifigkeit der Karosserie. Die gleiche Funktion erfüllt ein in die Karosse geschraubter Stahlrohrkäfig, der Teil des im GT R serienmäßigen „Track-Pakets“ ist. Die elektronisch geregelten, dynamischen Motor- und Getriebeaufhängungen sind eigens auf dieses Setup eingestellt. Dass es die AMG GT R Pro Version trotz dieses Zusatzballasts genauso wie der GT R auf 1585 Kilogramm Leergewicht bringt, ist den Leichtbaumaßnahmen zu verdanken, die rund 24 kg einsparen.

Playstation-Fans kommen beim Interieur auf Ihre Kosten, das zu großen Teilen vom AMG GT 4-Türer Coupé übernommen wurde und mit ihm allerlei Konfigurationsmöglichkeiten. Wie beim Mercedes AMG GT R ist das kleine Drehrad über der Mittelkonsole das Highlight für die versierten Lenkradkünstler. Mit ihm kann man die Schlupfregelung bei deaktivierten ESP in neun Stufen anpassen. Aber Vorsicht: Wer den Wert zu weit nach unten dreht, bekommt die gnadenlose Wucht der 585 PS sowie das maximale Drehmoment von 700 Nm in Form eines agilen Hecks direkt zu spüren. Wer es übertreibt, schaut aus dem Seitenfenster auf den Asphalt.

Gewisse Freiheiten fürs Hinterteil

Ein guter Kompromiss ist die „Race“-Einstellung, die dem Hinterteil ein gewisses Maß an Freiheit lässt, aber auf Wunsch den Rettungsanker ESP nicht komplett deaktiviert. Mit Vierpunktgurten in Sitzschalten festgezurrt kleben wir genauso in den Leichtbausitzschalen wie der AMG GT R Pro auf der Straße. Am Lenkrad finden sich alle nötigen Funktionen. Für manche mag das Volant überfrachtet erscheinen, aber wenn man mit über 250 km/h auf die Haarnadel zurast, lernt man nicht nur die standfesten Bremsen, sondern auch die Erreichbarkeit der Knöpfe zu schätzen. Von solchen Nebensächlichkeiten völlig unbeeindruckt, zeigt der zweifach turbogeladene 4-Liter-Achtzylinder, wer Herr im Hause AMG GT Pro R ist: Bereits nach 3,6 Sekunden erreicht das Coupé Landstraßentempo und feuert weiter bis 318 km/h. Dabei legt das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe die Gänge nahtlos vor.


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