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Motorradfahrer können nicht lenken

Klartext: Lenken lernen

Klartext Clemens Gleich
Klartext

(Bild: Clemens Gleich)

In der deutschen Fahrschulausbildung kommt seit einigen Jahren endlich der paradoxe Lenkimpuls vor, der nötig ist, um ein Motorrad bewusst zu lenken. Vorher hat jeder gewurschtelt, wie er dachte.

Die Politik liebt einfache Antworten auf komplexe Probleme. Deshalb gibt es seit 2016 eine ABS-Pflicht für neu zugelassene Motorräder. Sie hat nichts Wesentliches an den Unfallzahlen geändert, weil die ABS-Kaufquote in Deutschland schon vorher bei rund 100 Prozent lag. Trotzdem fratzen sich immer noch viele Motorradfahrer. Der Hersteller KTM will jetzt guten Willen zeigen, indem das größte brachliegende Gebiet der Unfallvermeidung von Herstellerseite angegangen wird: das Fahrkönnen.

Die „KTM Riders Academy“ [sic] lagert diese Unternehmung auf den Fahrlehrer und Coach Klaus Schwabe aus, der sie dann im Auftrag mit handverlesenen Trainern durchführt. Damit die Ergebnisse der Schulungen nicht mehr nur gefühlt weitererzählt werden, sondern auch geprüft, arbeitet er mit dem Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften zusammen (WIVW GmbH), die qualitativ (offene Fragen auf Böden) und quantitativ (Ankreuzfragen und Messdaten) Daten der Teilnehmer vorher/nachher sammelt. Ich habe mir das angeschaut und fand die Ansätze gut. Prinzipiell funktioniert aber jeder Kurs mit einigermaßen vorhandener pädagogischer Struktur (eher selten, eher die teuren Angebote).

Wir sind schon auch selber schuld

Der Anlass zum Nachtraining ist groß. Die Zahl der Alleinunfälle (also ohne ursächliche Beteiligung eines anderen Verkehrsteilnehmers) schwankt je nach Erfassung. Nimmt man durch Befragungen alle Unfälle mit hinein, auch diejenigen, die nicht in der offiziellen Statistik landen, weil die Verunfallten selbst aufräumen, kommen Werte weit über 70 Prozent heraus. Das tat zum Beispiel David Hough für sein Buch „Sicher ankommen“. Die Bundesstatistik zählt 67 Prozent der Motorradtoten außerorts als „selbstverschuldet“ (also als Unfallauslöser oder Alleinunfälle). Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) zählt hier 52 Prozent.

Wie man auch zählt, wir finden denke ich einen Konsens bei: Da könnte man durchaus mal bei; es würde sich lohnen. Das alte Mantra „Motorradfahrer WERDEN getötet“ stimmt bestenfalls bei innerorts-Daten. Etwa 60 Prozent aller tödlichen Alleinunfälle außerorts ereignen sich bei der Kurvenfahrt, wegen der die meisten Menschen Motorrad fahren.

Mehrzahl bei geringer Schräglage

Die Polizei schreibt als Unfallursache meistens „unangepasste Geschwindigkeit“ ins Formular, denn das stimmt immer: Die Geschwindigkeit war dem Fahrkönnen in dieser Situation nicht angepasst. Sonst wäre ja nichts passiert. Der Satz klingt so, als würden wir alle rasen wie die Bekloppten. Wenn sich Unfallanalysten jedoch die Daten später genauer anschauen, ergibt sich ein anderes, trauriges Bild: 45 Prozent der Unfälle ereigneten sich bei geringfügigen Schräglagen von unter 20°, obwohl Fahrbahn, Reifen, Wetter und Kradgeometrie meist über 40° hergaben.

Um das den nur-Auto-Fahrern zu vermitteln: Stellen Sie sich Unfälle vor, bei denen jemand mit geringer Kurvengeschwindigkeit bei kaum eingeschlagener Lenkung in den Gegenverkehr rasselt. Ein leicht verkleinerter Kurvenradius hätte den Unfall verhindert. Wie passiert das? Naja, bei etwa 20° liegt die natürliche, angeborene Schräglagengrenze des Menschen, aus den Zeiten „barfuß durch die Wiese“. Mehr (vor allem für Notfall-Automatismen) erreicht der Mensch nur durch Training. Und an dem fehlt es.

MOARR!

Motorradfahrer lieben Schräglage und Beschleunigung. Höchstgeschwindigkeit interessiert nur Wenige. Daher das absurd scheinende Phänomen, dass BMW zu jeder Generation mehr Hubraum nachlegt, damit der meistgenutzte Bereich bis 30 Prozent Drosselklappenöffnung mehr knallt. Motorradfahrer haben aber nicht mehr Zeit als andere Menschen, und deshalb fahren sie natürlich lieber schön, statt an Unzulänglichkeiten zu üben, die man sich problemlos schönreden kann. Kauf ich mir halt eine Traktionskontrolle / einen besseren Reifen / mehr Hubraum. Das hält auch den Neuverkauf am Leben: immer neue Fahrassistenten finden ihre Kundschaft.

Die paradoxe Lenkung eines Motorrads eignet sich jedoch schlecht für leichte, billige Servoassistenz. Und gerade diese Lenkung kennt ein Großteil der Motorradfahrer nur intuitiv, nicht aber bewusst. Wieder für die nur-Auto-Leute: Stellen Sie sich vor, ein großer Teil der Autofahrer wüssten nicht, dass sie am Lenkrad drehen für einen Lenkvorgang; sie würden Dinge sagen wie „Ich lenke, indem ich mich da rüber lehne“ (und damit unbewusst am Lenkrad drehe).

Lenkimpulse in der Ausbildung

Das klingt übertrieben und erfunden, entspricht aber der Realität in der Einspurwelt. Aus diesem Grund hat es der lange untersuchte Lenkimpuls vor einigen Jahren endlich in die Fahrschulausbildung geschafft. Vorher war es kein Bestandteil der Ausbildung, wie man ein Motorrad wirklich lenkt – auch das unvorstellbar beim Auto.

Der Grund ist Ignoranz: Es ist noch gar nicht so lange her, da wussten hauptsächlich Ausbilder für Motorrad-Rennfahrer um den Lenkimpuls, weil der kurze Hebel der Lenkstummel zusammen mit den schnellen nötigen Winkelgeschwindigkeiten beim Umlegen in Wechselkurven den Lenkimpuls durch seine schiere Größenordnung bewusst machen: Bei hohen Geschwindigkeiten braucht es über 100 Nm Drehmoment.

Der Hintern lenkt nicht

Keith Code war hier einer der Vorreiter. Dann kamen Neugierige wie Dr. Bernt Spiegel und untersuchten, was an der Wahrnehmung „Ich lenke mein Motorrad durch Gewichtsverlagerung“ dran ist: nicht viel. Das funktioniert nur bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten überhaupt, zeigten Versuche mit fixierter Lenkung oder auch schlicht ohne Hände am Lenker. Im Trial-Fahren funktioniert also Gewichts-Lenkung (langsam, auf sehr leichten Maschinen). In Hockenheim nicht. Dort verlagert der Fahrer sein Gewicht nach innen, um Schräglage zu sparen. Erst nach langer Zeit akzeptierte zumindest die Einspur-Pädagogik, dass ein Motorrad wirklich am Lenker gelenkt wird statt am Sitz per herumrutschendem Hintern. „Warum sträubte sich die Szene so?“, mag sich der Autofahrer fragen. Weil du, um ein Motorrad nach links einzulenken, den Lenker nach rechts drehen musst. Da wickle erst einmal dein Hirn herum.

Problemnetze

Deshalb fährt da draußen ein großer Teil der Population ohne Bewusstsein darüber herum, wie er lenkt. Das geht durchaus sehr zügig, vor allem beim typischen Bergfahren mit typischerweise hohen Anteilen niedriger Kurvengeschwindigkeiten, die entsprechend geringe Lenkimpulse verlangen. Es zeigt sich aber immer wieder bei unnötig scheinenden Stürzen, dass der unbewusste Impuls für schnelle Korrekturen in der Kurve selbst dort nicht reicht. Und obwohl beim Lenken der größte Klumpen vermeidbarer Unfälle liegt, steht es nicht alleine da als Unzulänglichkeit.

Trotz hoher, stetig steigender ABS-Quote bremsen Motorradfahrer bei Gefahren häufig nicht voll. In Kurven dann gar nicht, denn eine Kurvenbremsung stellt das Motorrad auf, was es in den Gegenverkehr führt. Da müsste man wieder lenken können. Dann die vielen Fußverletzungen aus Nichtbeherrschung der Langsamfahrt, vor allem bei schweren Tourern. Es gibt genügend Baustellen.

Fahrsicherheits-Wochenende ist nicht die Lösung

Wenn die Politik hier was tun will, könnte sie Ausbildung fördern. Die kann nicht in einem einzelnen Kurs stattfinden, denn Training ist ein Prozess, der aus vielen tausend Wiederholungen besteht, nicht aus einem Fahrsicherheits-Wochenende alle zehn Jahre. Der Kurs schafft lediglich den Anstoß, liefert die nötige Anleitung. Aus demselben Grund kann sie nicht in der Fahrschule stattfinden, sonst müsste die Ausbildung drei Jahre dauern.

Die Fahrschule könnte im aktuellen Umfang statt internationaler Peinlichkeiten wie „Bremsung mit Ausweichen aus 50 km/h“ (nachweislich fatal als Anweisung für Motorradfahrer) mehr Bedienungs-Grundlagen lehren, wie mit dem Lenkimpuls geschehen. Danach stellt die Behörde den Führerschein aus. Und dann kann sie ruhig einmal dazu schreiben, was schon immer galt: „Das ist deine Lizenz zum eigenständig weiterlernen.“ Ich weiß, dass fahrerische Unzulänglichkeit nicht in unser aller Selbstbild als etwas dickere Valentino Rossis passt. Sehen wir es doch so: Herr Rossi hat auch gelegentlich geübt, bevor er Weltmeister wurde.


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