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Das neue Lobbyinstrument „Conformity Factor“ soll die Abgasentgiftung verzögern

Aufschub fürs Gift

News Christoph M. Schwarzer

Die Überschreitung der im Normzyklus gemessenen Abgas-Gifte im Realbetrieb zeigt, dass die Industrie nur auf den NEFZ hin optimiert. Die EU möchte daher realitätsnäher messen. Die Hersteller jedoch fordern eine Übergangsfrist wegen angeblicher technischer Probleme - wie vor über 30 Jahren beim Katalysator

Brüssel, 19. Februar 2015 – Die Luft am Straßenrand ist sauberer geworden, aber nicht rein: „Die Stickoxide aus Diesel-Pkw sind eines der ungelösten Abgasprobleme“, erklärt Vicente Franco vom International Council on Clean Transportation (ICCT). Denn hier gibt es „eine klaffende Lücke“ zwischen dem Prüfstandsgrenzwert von 80 Milligramm pro Kilometer und der Wirklichkeit. Der ICCT hat mit Daten des britischen Instituts Emissions Analytics [1] bis zu 1809 Milligramm gemessen; also eine mehr als 22-fache Überschreitung [2]. Im Durchschnitt von 15 getesteten Fahrzeugen wurde das gesetzliche Limit um das siebenfache übertroffen. Stickoxide schädigen den Menschen direkt. Besonders die Atemwege werden angegriffen. Allergien, Asthma und andere Krankheiten sind die Folge.

„Wir wissen aus unseren Untersuchungen, dass die Abgasreinigung beim Diesel sehr gut funktionieren kann“, sagt Vicente Franco und gibt damit das Ziel aus, die Emissionen auch im Realbetrieb auf der Straße zu senken. Eine Einschätzung, die von der Europäischen Union geteilt wird. Die Generaldirektion Wachstum – quasi das EU-Wirtschaftsministerium – unter Führung der Kommissarin Elzbieta Bienkowska hat darum die Initiative Real Driving Emissions [3] (RDE) gestartet. Mit RDE wird es faktisch einen zweiten Messzyklus geben. Einen, der nicht im Labor, sondern mit mobilen Messgeräten (abgekürzt PEMS für Portable Emissions Measurement System) auf echten Straßen gefahren wird, auch mit Vollgas, bei Kälte und mit Beladung.

Bei den Real Driving Emissions RDE stehen ausschließlich die giftigen Abgase im Fokus. Vor allem die Stickoxide aus Diesel-Pkw, aber als zweite Gesundheitsgefahr auch die Partikel-Emissionen, die inzwischen in höchster Zahl von Benzindirekteinspritzern ausgestoßen werden. Um den Kraftstoffverbrauch, der über den Umweg des CO2-Ausstoßes gemessen wird, um den unterschiedlichen Energiegehalt von Otto- und Dieselkraftstoffen zu berücksichtigen, geht es bei RDE nicht; das Ziel der EU ist, dass die Grenzwerte für Stickoxide „unter üblichen Fahrbedingungen“ eingehalten werden.

„Conformity Factor“ als Verhandlungsmasse

Das klingt zu schön, um wahr zu sein? Vielleicht. Denn selbstverständlich haben sich die Industrievertreter in Stellung gebracht, um die RDE-Messung aufzuweichen oder deren Ergebnisse folgenlos lassen zu können. Das Stichwort dazu heißt Conformity Factor.

So bestreitet die ACEA [4], der Verband der europäischen Automobilproduzenten, keineswegs, dass Diesel-Pkw auf der Straße das Vielfache des Stickoxid-Laborgrenzwerts ausstoßen. Vielmehr nutzt man die Messung des ICCT [5] für die eigenen Zwecke und will die dort gemessene siebenfache Überschreitung als ersten Grenzwert des RDE-Zyklus einführen. Die Abweichung zwischen gesetzlichem Limit und tatsächlichen Emissionen nennt man „Conformity Factor“, also übersetzt etwa Übereinstimmungsfaktor.

In der Europäischen Union wird transparenter gearbeitet als in vielen nationalen Behörden, und darum kann das Positionspapier der ACEA von jedem eingesehen [6] werden. Während der Testphase von RDE bis 2017, siehe Seite 12, soll ein Conformity Factor von 7 gelten. Dann, mit der Einführung der Euro 6c, kann sich die Autoindustrie eine Absenkung auf 2,75 vorstellen. Und ab 2021, also nach mehr als einem dreijährigen Entwicklungszyklus, schlägt die ACEA einen Conformity Factor von 1,5 vor. Statt um das siebenfache sollen die realen Stickoxidemissionen dann nur noch um die Hälfte über dem Laborwert liegen.

Die Industrie verhandelt also verkürzt gesagt einen Aufschub. heise Autos liegen weitere Papiere von Herstellern vor, die mit Verweis auf den langen Vorlauf der Industrie für neue Autos ebenfalls eine Verzögerung fordern. Der Tenor: Wir können das nicht – noch nicht.

Wirklich saubere Diesel „kurzfristig umsetzbar“

Genau das wiederum bestreitet der ICCT, der mit Transport & Environment, einem Dachverband europäischer Umweltorganisationen im Mobilitätssektor, sowie der EU-Generaldirektion Umwelt ein Gegengewicht bei den aktuellen Verhandlungen bildet: „Wir halten einen Conformity Factor von unter 2 bereits kurzfristig für umsetzbar“, sagt Vicente Franco und verweist auf die Technik. Bei Autos, die eine Stickoxidreinigung mit Harnstoffeinspritzung („AdBlue“) haben, müsse nur die Software angepasst werden, so Franco.

Das wäre zum Beispiel bei einem Volkswagen Passat mit dem 140 kW (190 PS) starken TDI der Fall. Beim Dieselmotor mit 110 kW (150 PS) dagegen wird nur ein Speicherkatalysator eingesetzt. Das spart nicht nur Kosten und Bauraum für den AdBlue-Tank, es ist auch ein Komfortgewinn für den Fahrer, der nicht genötigt wird, in regelmäßigen Abständen die wässrige Harnstofflösung AdBlue nachzufüllen. Auch bei den Speicherkatalysatoren gibt es nach Einschätzung des ICCT weiteres Verbesserungspotenzial, und wo das nicht ausreiche, müsse eben die aufwändige, aber wirksame Abgasreinigung mit der selektiven katalytischen Reinigung (SCR) durch Harnstoffeinspritzung eingebaut werden.

Frankreich tauscht Diesel gegen Elektroautos

Ob die Arbeitsgruppe Real Driving Emissions nun ein zahnloser Tiger oder ein erfolgreiches Verbesserungsinstrument wird, hängt von zwei Faktoren ab.

Zum einen davon, ob die Rahmenbedingungen bei der Ausfahrt im RDE-Zyklus gut gesetzt sind. Bisher sind viele Kriterien noch butterweich. So ist noch keine genaue Beladung der Autos vorgegeben. Stattdessen gilt die Formulierung, dass das Gewicht „repräsentativ für die tatsächliche Nutzung im Alltag“ sein soll. Der Test dauert 90 bis 120 Minuten und soll städtisches Fahren genauso abbilden wie eine Bundesstraßentour und eine Autobahnfahrt – allerdings mit „nicht mehr als 145 km/h“. Das alles wären Fortschritte gegenüber dem Laborzyklus NEFZ und dem 2017 kommenden WLTP. Trotzdem kommt es bei den letzten Verhandlungen im Technical Committee on Motor Vehicles (TCMV) in Brüssel entscheidend darauf an, den Forderungen der Autoindustrie nicht nachzugeben – nach deren Wunsch sollen etwa Vollgaspassagen und maximale Beschleunigung gestrichen werden.

Der zweite wichtige Aspekt ist der Conformity Factor. Ist er zu lasch, wird es auf absehbare Zeit keine Verbesserung der Luftqualität in den Städten geben. Auch er ist Gegenstand der Verhandlungen, die im März beendet sein sollen.

Während Fachleute und Interessenvertreter um ein möglicherweise sinnvolles, ganz sicher aber bürokratisches Verfahren streiten, schaffen die Franzosen Fakten: Wer einen Diesel abwrackt und dafür ein Elektroauto kauft, bekommt vom Staat 10.000 Euro Zuschuss. Das ist zwar protektionistisch, weil besonders Renault profitieren dürfte. Aber es funktioniert unmittelbar.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-2558137

Links in diesem Artikel:
[1] http://emissionsanalytics.com/
[2] http://www.theicct.org/sites/default/files/publications/ICCT_PEMS-study_diesel-cars_20141010.pdf
[3] http://www.real-driving-emissions.eu/
[4] http://www.acea.be
[5] https://www.heise.de/autos/artikel/Feilschen-um-die-Verbrauchs-Zukunft-Der-CO2-Grenzwert-ab-2025-2534742.html
[6] http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/2014_2019/documents/envi/dv/nec2_land_/nec2_land_en.pdf