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Verkuppelt

MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS

Motorrad iga

Die MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS ist das erste Serienmotorrad mit einer Automatikkupplung von Rekluse. Kuppeln ist damit überflüssig, ein Kupplungshebel ist gleichwohl noch vorhanden. Viele Käufer wird der 800er-Sporttourer aber wegen des hohen Preises eher nicht finden

MV Agusta bringt einen Sporttourer mit dem sperrigen Namen Turismo Veloce 800 Lusso SCS mit Kupplungs-Automatik auf den Markt. Die italienische Marke verbaut dazu am normalen Getriebe anstelle der herkömmlichen Kupplung ein Nachrüst-Bauteil von Rekluse, wie es schon seit ein paar Jahren verkauft wird.

Dazu ist also kein CVT-Getriebe nötig, wie man es von Rollern kennt, und schon gar kein Doppelkupplungsgetriebe, wie es Honda für manche Modelle anbietet. Es ist eine Fliehkraftkupplung, die einfach nur den Kraftschluss unterhalb einer bestimmten Drehzahl unterbricht – oder ihn darüber wieder aufnimmt. Das wird besonders im Motocross und Endurosport geschätzt, weil damit Abwürgen kaum noch möglich ist und die Kupplung vor allem satte Traktion sichert.

Der Fahrer muss aber weiterhin schalten und kann jederzeit noch über den Kupplungshebel eingreifen. Auch, wenn einige sportliche Geländefahrer bei einer Rekluse-Kupplung ganz auf den Hebel verzichten und stattdessen dort einen Bremsgriff für die Hinterradbremse montieren – bei der MV Agusta bleibt bis auf die Zusatzfunktion alles unverändert.

Noch mehr Luxus

Die Turismo Veloce 800 wurde 2015 präsentiert und war die erste MV Agusta, die für normale Menschen konzipiert worden war. Bis dahin baute die berühmte italienische Marke nach ihrem Neustart 1992 nur Sportmotorräder, die zwar wunderschön, aber ungefähr so bequem waren wie eine Folterbank. Die Turismo Veloce 800 sollte aus dem Tourenfahrerlager neue Kunden zu MV Agusta locken.

Sie erhielt den von 140 auf 110 PS reduzierten, aber dafür drehmomentoptimierten Dreizylindermotor der Brutale 800. Mit 80 Nm Drehmoment bei 7100/min aus 798 Kubikzentimetern konnte man die Turimso Veloce schon recht schaltfaul fahren. Doch die Marke aus Varese will seinen Kunden noch mehr Komfort gönnen und bietet für die Turismo Veloce 800 Lusso (zu deutsch: Luxus) nun eben auch die Version SCS an, was für „Smart Clutch System“ steht, bei der die Kupplung überhaupt nicht mehr bedient werden muss.

Kupplungshebel plus Automatik

Die amerikanische Firma Rekluse entwickelt seit 15 Jahren Automatikkupplungen. Bei einer manuellen Motorradkupplung pressen Federn über eine Druckscheibe die Kupplungsscheiben zusammen. Kraftschluss besteht so also so lange, bis der Fahrer den Kupplungshebel zieht und dadurch die Druckscheibe manuell entlastet.

Die Fliehkraftkupplung hält umgekehrt per Federkraft Druckplatte und Kupplungsscheiben so lange auseinander, bis die Drehzahl zum Einrücken der Kupplung ausreicht. Sobald der Motor hochdreht, drücken Fliehgewichte innerhalb der Kupplung gegen die Federkräfte die Scheiben zusammen. Der Fahrer muss auf der Turismo Veloce 800 Lusso SCS also nur am Gasgriff drehen und die Kupplung rückt selbsttätig ein.

Freie Sicht auf die Kupplung

Die Gänge werden weiterhin per Fußschalthebel gewechselt. Zur Schalt-Erleichterung verfügt die Turismo Veloce 800 Lusso SCS über einen Quickshifter und Blipper, wie sie auch am Schwestermodell mit herkömmlicher Kupplung zu finden sind. Sie unterbrechen für wenige tausendstel Sekunden durch ein Signal der Steuerelektronik die Einspritzung und damit den Kraftfluss über die Gangräder. Das ermöglichen während der Fahrt das Schalten, ohne die Kupplung zu ziehen. Man brauchte also bisher bereits nur mehr zum Anfahren oder Anhalten die Kupplung zu betätigen. Und das ist somit das Einzige, was beim SCS nun noch wegfällt.

Wie gut oder schlecht die Rekluse-Kupplung funktioniert, hängt von der exakten Feinjustierung beim Einbau ab, wobei die verbaute „RadiusCX“ als sehr ausgereift gilt. Der Fahrer kann jederzeit über den immer noch vorhandenen Kupplungshebel aktiv ins Geschehen eingreifen, allerdings sind die Bedienkräfte geringfügig höher. Weil man so stolz auf das SCS ist, trägt der Motor die rot eloxierte Rekluse-Kupplung offen zur Schau, ein durchsichtiger Deckel ermöglicht die freie Sicht.

Semi-aktives Fahrwerk

Doch der beste Motor nützt nichts, wenn das Fahrwerk nicht mithalten kann. Diesbezüglich hat die Turismo Veloce 800 Lusso SCS ganz sicher keine Probleme, sie verfügt nicht nur über einen stabilen Gitterrohrrahmen aus Stahl, sondern auch über ein semi-aktives Fahrwerk von Sachs, das bereits in der Turismo Veloce 800 (ohne SCS) [1] ganz vorzüglich funktioniert. Mit Federwegen von 160 mm vorne und 165 mm hinten bügelt die Turismo Veloce 800 Lusso auch gröbere Unebenheiten glatt. Die Sitzposition ist für eine MV Agusta ungewöhnlich entspannt, die Fußrasten sind nicht zu hoch und die Sitzbank ist komfortabel gepolstert. Der breite Lenker ist hoch und nah am Fahrer positioniert. Der Windschild lässt sich mit einer Hand in der Höhe verstellen, Heizgriffe und Tempomat sind serienmäßig.

Als erste MV Agusta bekam die Turismo Veloce 800 Lusso ein farbiges TFT-Display. LED-Technik bringt Tagfahrlicht und Scheinwerfer zum Leuchten und auch zwei USB-Anschlüsse sowie zwei 12V-Steckdosen sind Serie. An Aufhängungen für die gut integrierten Koffer wurde auch gedacht, leider kosten die in Fahrzeugfarbe lackierten Teile Aufpreis. Die Entwickler spendierten der Turismo Veloce 800 einen 21,5 Liter großen Tank, was bei einem Verbrauch von rund sechs Liter auf hundert Kilometer für ein Tourenmotorrad auch nötig war. Der Benzinbehälter ist überraschend schlank, so dass die Sitzhöhe von 850 Millimeter dem Fahrer gar nicht so hoch vorkommt, wegen der vorn schmal geformten Sitzbank.

Sehr gute Traktion

Dabei bringt die Turismo Veloce 800 Lusso SCS laut Hersteller nur 192 Kilogramm auf die Waage, allerdings mit leerem Tank. Handlich und leicht ist der Sporttourer von MV Agusta immer gewesen. Deshalb reichen dem neuen Modell auch 110 PS für bemerkenswerte Fahrleistungen: MV Agusta gibt an, dass sie, dank SCS, aus dem Stand in 3,2 Sekunden auf Tempo 100 beschleunigt. Die Rekluse-Kupplungen zeichnen sich durch hervorragende Traktion aus, besonders Motocrosser nützen diesen Vorteil gerne zu einem Blitzstart, die Werksangaben erscheinen daher durchaus möglich. Die Höchstgeschwindigkeit beziffert die MV Agusta für ihr jüngstes Modell auf 230 km/h – das reicht für ein eher touristisch ausgelegtes Motorrad. Eingefangen wird die Fuhre am Vorderrad von radial verschraubten Vierkolben-Bremszangen von Brembo, die über jeden Zweifel erhaben sind.


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