zurück zum Artikel

Ausschlussverfahren

Motorrad des Jahres 2019

Motorrad iga
Motorrad des Jahres 2019

2019 neigt sich dem Ende zu und ich blicke auf die Vorstellungen und -tests bei heise Autos zurück. Mein persönliches „Motorrad des Jahres“ zu küren fällt mir nicht leicht. Dabei spielen neben den Fakten auch viele subjektive Eindrücke eine Rolle. Über das Jahr gabe einige Favoritinnen, „die eine“ fand ich erst im Herbst

2019 neigt sich dem Ende zu und ich stelle rückblickend fest, dass viele schöne und interessante Motorräder bei heise Autos vorgestellt wurden. Wir haben einige neue Modelle auf Motor und Fahrwerk getestet, tausende Kilometer abgespult, sie über Landstraßen chauffiert, über Autobahnen gescheucht und durch Innenstädte gequält. Natürlich wollten wir nicht nur die PS-Boliden und die hyperteuren Bikes vorstellen, sondern auch die günstigen Einsteigerbikes [1], ansprechende Modelle aus der Mittelklasse und ausgesprochene Spaßmacher. Wenn ich nun mein persönliches „Motorrad des Jahres“ küren sollte, fällt mir das nicht leicht. Bei der Beurteilung eines Motorrads spielen neben den harten Fakten eben auch viele subjektive Eindrücke eine entscheidende Rolle. Über das Jahr schwankte ich ständig, was die Favoritin anging und fand sie erst im Herbst.

Die Meiste

Ich hätte mir die Wahl zum Motorrad des Jahres natürlich einfach machen können: Dann gewinnt das meistverkaufte Motorrad, das wäre sozusagen die demokratische Mehrheitsentscheidung. Damit hätte die neue BMW R 1250 GS (Test) [2] mit Riesenvorsprung gewonnen und die große Reiseenduro mit dem Boxermotor wäre mal wieder allen enteilt. Ich habe sie im Frühjahr getestet und kann der beliebten Bayerin attestieren, in der Summe ihrer Eigenschaften eigentlich unschlagbar zu sein. Das ist das Geheimnis ihres Erfolgs. Zumal sie jetzt über eine variable Ventilsteuerung verfügt, die ihr noch mehr Power verleiht (was nicht nötig gewesen wäre) und eine noch weichere Gasannahme [3] zulässt. Die GS nähert sich der Perfektion, doch genau das macht sie auch fast schon ein bisschen langweilig. Ihr größter Fehler ist aber ausgerechnet ihre Beliebtheit: Sie steht an jeder Straßenecke und tummelt sich zu Tausenden auf den Landstraßen. Im Sommer gibt es Alpenpässen, wo die Verkehrsdichte fast 100 Prozent BMW GS annimmt. Wer etwas Besonderes will, sollte also auf keinen Fall zur Boxer-Enduro greifen. Damit kommt sie für meine persönliche Wahl zum Motorrad des Jahres schon mal nicht in Frage.

Die Stärkste

Oder ich könnten das stärkste dieses Jahr von mir gefahrene Motorrad küren, das wäre eindeutig die Ducati Panigale V4 S (Test) [4] mit sagenhaften 214 PS und der Beschleunigung einer Bodenrakete. Mit einem zum Niederknien schönen Design, wie es wahrscheinlich nur Italiener zeichnen können. Ein semi-aktives Öhlins-Fahrwerk und Brembo-Stylema-Bremsen ließen keine Wünsche offen. Zudem erwies sich ihr 1103-Kubikzentimeter-V4-Motor als verblüffend manierlich – was man von der Vorgängerin mit dem V2 wirklich nicht behaupten konnte.

Die Panigale V4 S ließ sich entspannt im vierten Gang durch die City dirigieren, ohne dass der Motor ruckelte und bockte. Doch, wehe, wenn der Gasgriff aufgedreht wurde! Die Ducati beamte sich in einem Wimpernschlag über die Tempo-100-Marke, raste und röhrte wie ein wütender Stier immer weiter und erst bei 299 hörte der Tacho auf mitzuzählen. Ein Erlebnis, das man nicht mehr vergisst.

Retro-Guzzi mit wenig Alltagsnutzen

Aber die Panigale V4 S ist für die Rennstrecke konstruiert und die Sitzposition erfordert ein erhebliches Maß an Leidensfähigkeit. Auch wenn sie sich auf der Landstraße noch ganz ordentlich schlug, war sie in der Innenstadt eine Zumutung, denn der fette Krümmer grillte das rechte Bein und im Leerlauf brüllte sie mit ohrenbetäubenden 107 Dezibel. Außerdem ist die Panigale V4 S mit 28.390 Euro wahrlich kein Sonderangebot. Also, wird auch sie in meinem persönlichen Ranking nicht zum „Bike des Jahres“.

Die Nostalgische

Im Frühsommer kam die Moto Guzzi V85 TT zum Testen [5] und eroberte die Herzen. Eine bildschöne Reiseenduro im Stil der 80er Jahre, wobei der Motor war zwar gründlich überarbeitet, aber in seinen Grundzügen schon über ein halbes Jahrhundert alt ist. Der klassische, längs eingebaute V2 ist 853 Kubikzentimeter groß und leistet für Guzzi-Verhältnisse sagenhafte 80 PS. Mit dem knallrot lackierten Stahlrohrrahmen, der Upside-down-Gabel, dem fetten Tank und dem runden Doppelscheinwerfer machte sie optisch ungemein viel her.

Die V85 TT fuhr sich angenehm, erwies sich als komfortabel und sogar handlich, aber irgendwie hatte ich mir vom Antrieb mehr versprochen. Die Moto Guzzi leistete 80 Nm Drehmoment bei 5000/min. Das war zwar ganz ordentlich, aber die 241 Kilogramm Leergewicht machten dem Motor dann doch zu schaffen und der Kardanantrieb trug auch nicht gerade zur Dynamik bei. Das Getriebe krachte laut und, wenn man es eilig hatte, passierte es immer wieder, dass man auf der Suche nach mehr Leistung versehentlich in den roten Bereich drehte. Bei flotter Kurvenhatz verhinderte der große Tank den Versuch, nach vorne zu rücken, um mehr Gewicht auf das Vorderrad zu bringen. Guzzisti werden darüber nur die Achseln zucken und es als Charakter abtun. Trotzdem hätte die V85 TT das Motorrad des Jahres werden können, wenn Moto Guzzi den Preis nicht mit 12.300 Euro (für die Version mit Zweifarben-Lackierung) angesetzt hätte. Für die Summe gibt es kräftigere und ausgereiftere Modelle. Damit hatte auch die Guzzi keine Chance mehr.

Die Gefällige

Für den Titel suchte ich also ein Motorrad, das nicht nur von der Optik her gefiel, sondern auch durch einen gelungenen Motor und ein gut funktionierendes Fahrwerk bestach. Ein Bike, das etwas außergewöhnlich und doch absolut alltagstauglich war. Wie die Triumph Speed Twin (Test) [6]. Die Britin präsentierte sich mir im Spätsommer im schicken Retro-Look, ohne dabei zu übertreiben. Sie sah aus, wie den Siebziger Jahren entsprungen, hielt aber so ziemlich alle elektronischen Assistenzsysteme parat. Ihr mächtiger 1200er-Reihenzweizylinder schüttelte seine Kraft locker aus dem Ärmel und beeindruckte mit satten 112 Nm Drehmoment schon bei knapp unter 5000/min. Die Speed Twin drückte bereits gewaltig aus dem Drehzahlkeller an, konnte aber auch ohne zu Ruckeln im fünften Gang durch die Stadt flanieren. Viele liebevolle Details erfreuten das Auge und zudem erwies sich das Naked Bike als handlich, nicht zuletzt dank eines Leergewichts von 218 Kilogramm. Die Speed Twin verhielt sich stets mustergültig, erlaubte sich in keiner Kategorie gravierende Schwächen und war ein echter Hingucker. Auch beim Preis zeigte Triumph britisches Understatement und siedelte ihn mit 12.150 Euro nicht zu hoch an. Die Speed Twin war deshalb lange Zeit mein Favorit für den Titel „Bike des Jahres“.

Die Siegerin

Bis sie im Oktober noch auf der Ziellinie abgefangen wurde. Ausgerechnet von einem Motorrad, dem ich im Vorfeld sehr kritisch gegenübergestanden hatte: Die neue Yamaha Ténéré 700. Ich war immer ein Fan der ersten XT 600 Z Ténéré aus den 1980er Jahren gewesen. Sie war damals der Inbegriff der Reiseenduro wegen ihrer Robustheit, ihres geringen Gewichts, langer Federwege und des riesigen 30-Liter-Tanks. Im Laufe der Jahrzehnte mutierte die Ténéré jedoch zu einem schweren, kaum noch geländetauglichen und unansehnlichen Ladenhüter.

Alle Vorurteile entkräftet

Dann kündigte Yamaha eine Nachfolgerin an mit dem Motor der MT-07. Gut, die altbekannte MT-07 hatte ich dieses Jahr bereits getestet [7] und sie zeigte sich erneut als wunderbar agiler und flotter Landstraßenflitzer. Ihr 689-Kubikzentimeter-Zweizylinder ist ein echtes Sahnestück. Aber in eine Ténéré gehörte für mich ein Einzylinder, basta! Das Gewicht der neuen Ténéré bezifferte Yamaha auf vollgetankt 203 Kilogramm – ihre Vorfahrin brachte es auf schlanke 170 Kilogramm und das mit vollem 30-Liter-Fass. Und dann kam die Neue auch noch im Rallye-Gewand daher mit hoch aufragender Front. Eigentlich mag ich den Look, aber bislang bedeutete er: Spartanisches Sportgeräte ohne Alltagstauglichkeit.

Der ideale Antrieb

Doch schon auf den ersten Metern überraschte mich die Ténéré 700. Ihre dünn wirkende Sitzbank war bequem und die Fahrerposition, egal ob im Sitzen oder Stehen, passte wie angegossen. Die Yamaha ließ sich superhandlich dirigieren, sie folgte präzise jedem Befehl und selbst die eher groben Stollenreifen konnten das Kurvenvergnügen nicht trüben. Der Zweizylinder belehrte mich in kürzester Zeit bezüglich meiner Einzylinder-Präferenz [8] eines Besseren: Er ist der ideale Antrieb für die Ténéré. Balanceakte bei Schrittgeschwindigkeit unterstützte der Motor durch samtweiche Gasannahme, plötzliches Aufreißen des Gasgriffs quittierte er mit heftigem Vorwärtsdrang.

Das Fahrwerk erschien mir zunächst mit 210 mm Federweg vorne und 200 mm hinten für den Geländeeinsatz etwas zu knapp geraten – doch wieder daneben gelegen! Die Ténéré 700 [9] segelte anstandslos über holprige Waldwege und auf Schotterpisten zog sie unerschütterlich ihre Bahn. Gabel und Federbein arbeiteten sehr progressiv und schluckten so ziemlich alles weg. Auch ihr Gewicht von vier Zentnern wusste die Yamaha gut zu verstecken, subjektiv hätte ich auf wesentlich weniger getippt. Auf der Autobahn erreichte sie Tempo 193. Kein Pendeln, nicht einmal ein leises Zucken – die Ténéré lief verlässlich wie eine ICE geradeaus.

Schließlich blieb mir nur noch ein Kritikpunkt übrig: der 16-Liter-Tank. Nur wenig mehr als die Hälfte von einst. Ha, wenigstens hier konnte ich der neuen Ténéré einen Vorwurf machen! Ich hatte nicht mit der Sparsamkeit des Motors gerechnet. Erst nach 300 Kilometern suchte ich das erste Mal eine Tankstelle auf und da schwappte immer noch ein wenig Sprit im Tank. Mehr Reichweite brauchte es in Europa jedenfalls nicht. Das überzeugendste Argument lieferte aber das Preisschild: nur 9599 Euro.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4622839

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/autos/artikel/Motorraeder-unter-6000-Euro-4340168.html
[2] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-BMW-R-1250-GS-4359631.html
[3] https://www.heise.de/autos/artikel/Die-neue-BMW-R-1250-GS-mit-variablen-Steuerzeiten-4165586.html
[4] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-Ducati-Panigale-V4-S-4537509.html
[5] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-Moto-Guzzi-V85-TT-4468832.html
[6] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-Triumph-Speed-Twin-4347485.html
[7] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-Yamaha-MT-07-4457008.html
[8] https://www.heise.de/autos/artikel/Einzylinder-Motorraeder-4592009.html
[9] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-Yamaha-Tenere-700-4570306.html