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Neophyt

Reportage: Prototypenerprobung VW I.D.

News Stefan Grundhoff
Prototypenerprobung VW I.D.

Volkswagen Einsteig in die E-Mobilität wird kompakt, während viele Wettbewerber mit einer großen Limousine oder einem SUV anfangen. Der neue VW mit der Übergangsbezeichnung "Neo" soll zudem - ganz mutig - fast gleichzeitig mit dem Golf 8 erscheinen. Wir fuhren den Prototypen

Volkswagen hat sich viel vorgenommen, innerhalb der nächsten zehn Jahre wollen die Wolfsburger zur Elektromarke werden. Die Ziele sind hoch gesteckt, denn bis 2025 sollen 15 bis 20 Prozent der eigenen Modelle elektrisch fahren. Voran geht der I.D., der intern den Beinamen Neo trägt. Bis März soll geklärt werden, wie der kompakte Neophyt in der Biosphäre der E-Autos endgültig heißen soll.

Die Wolfsburger verfahren bei der Einführung ihrer elektrifizierten Baureihe (vorher gab es nur einzelne Modelle) anders als die meisten Konkurrenten, denn während Hyundai (Nexo, Test) [1], Audi (e-tron, Test) [2], Jaguar (I-Pace, Test) [3] oder Mercedes (EQC) [4] mit elektrischen SUV starten, bringt Volkswagen zunächst ein Kompaktklasse-Modell an den Start. Der VW I.D. Neo [5] soll nach seiner offiziellen Weltpremiere im Herbst kommenden Jahres und dem internationalen Marktstart im Frühjahr 2020 der Beginn einer ganzen Reihe von knapp zehn Elektrofahrzeugen sein.

Dass man das rund 4,25 Meter lange Elektromodell dabei nahezu parallel mit der achten Golf-Generation auf den Markt bringt, klingt zusätzlich herausfordernd. Der neue Golf wirkt gegen den mutig gestylten I.D. Neo bei vergleichbaren Dimensionen geradezu hausbacken. Angesichts des ungebremsten Erfolgs der SUV scheint es andererseits schwieriger, ein Elektroauto als Kompaktklassemodell statt als SUV zu positionieren. Schließlich soll die I.D.-Reihe sofort Geld verdienen.

Reichweiten von mindestens 330 km

„Das Preissegment ist anspruchsvoll“, erläutert VW-Entwicklungsvorstand Dr. Frank Welsch, „aber wir wollen den I.D. zum Preis eines vergleichbar ausgestatteten Golf Diesel auf den Markt bringen. Es wird verschiedene Akkupakete geben, die nach dem WLTP-Zyklus Reichweiten von mindestens 330 Kilometern ermöglichen sollen.“ Welsch führt mit seinem Entwicklungsteam zur Zeit die Hitzeerprobung in Südafrika durch. „Insgesamt testen wir hier rund vier Wochen“, ergänzt Chefentwickler Frank Bekemeier, der sich mit einer weißen Kappe gegen die Sonne schützt, „danach geht es dann mit den Fahrzeugen in den kalten Winter.“ Der VW I.D. ist eine komplette Neuentwicklung. Aus laufenden Serien stammen nur Türgriffe, die 12-Volt-Batterie und das Selbstverständnis, was ein VW können muss.

Das Tagesprogramm ist voll mit Messungen und Fahrprofilen, der Tross fährt dazu auf der Küstenstraße Richtung Hermanus. Schon als es zuvor über die R310 aus dem urbanen Stellenbosch hinaus aufs Land ging, überraschte der elektrische Prototyp mit dem ungewöhnlichen Kennzeichen ABC 110 in der Windschutzscheibe. Obwohl der mit Tarnfolie verzierte Proband nach Aussagen des Entwicklungsteams ausschließlich die Themen Antrieb und Klimatisierung bespielen soll, fährt sich das rund 1,6 Tonnen schwere Kompaktklassemodell überraschend erwachsen. Erstmals seit dem 2003 eingestellten Mexiko-Käfer ist wieder ein Volkswagen mit einem Heckmotor unterwegs. Und auch wenn die Leistungsdaten noch gehütet werden, ist davon auszugehen, dass der Prototyp bis zu 150 kW / 204 PS und deutlich mehr als 300 Nm maximales Drehmoment an seine Hinterachse bringen kann.

Während die Basisversion mit wohl rund 110 kW / 150 PS und 300 Nm auf 19-Zöllern rollt, ist der Testwagen mit dem größeren 20-Zoll-Radsatz unterwegs, der einen Durchmesser von 705 Millimetern hat. „Für unsere größeren Modelle wie die SUV mit Allradantrieb sind sogar bis zu 750 Millimeter Raddurchmesser [6] drin“, erläutert Frank Welsch, „auch das ermöglicht die neue MEB-Plattform, die wir vielfältig skalieren können.“ Der Entwicklungsvorstand, der vor gut drei Jahren von Skoda zu Volkswagen kam, war bei der Entstehung der Elektrofamilie von Anfang an dabei. „Derzeit beschäftigen wir uns in der Entwicklung zu rund 40 Prozent mit den I.D.-Modellen. Einiges müssen wir immer wieder neu testen, da wir nicht wie beim MQB auf entsprechende Grundlagen zurückgreifen können.“ Überaus dynamisch beschleunigt das elektrische Integrationsstufenfahrzeug aus geringen und mittleren Tempi.

Handling gut, Abrollgeräusch okay

Lenkung, Bremsen und Fahrwerk machen beim Erprobungsfahrzug, das seine schwarze Kunststoffheckklappe hinter weiß-schwarzer Folie verbirgt, einen guten Eindruck. Selbst Wind- und Abrollgeräusche passen angesichts des groben Fahrbahnbelags. Das Platzangebot des Neo ist deutlich besser als beim ähnlich dimensionierten Golf. Grund ist der ohne Verbrennungsmotor rund zehn Zentimeter längere Radstand , der das Armaturenbrett deutlich nach vorne rutschen lässt und wertvolle Zentimeter im Fond freimacht.

In seinem Aufbau geht der I.D. Neo einen anderen Weg als der BMW i3. „Der Wagen besteht zu 99 Prozent aus Stahl“, sagt Frank Bekemeier, „Aluminium und andere Komponenten wurden in erster Linie in den Crashstrukturen verbaut. Das Thema Gewicht ist nicht derart entscheidend, auch weil wir davon bei der Rekuperation profitieren und das maximale Drehmoment vom Start anliegt.“

Welsch und Bekemeier sind unzufrieden mit den Reifen, die zu laut abrollen, das Head-Up-Display strahlt unter der südafrikanischen Sonne noch nicht hell genug und dann gibt es noch diese kleine Anfahrschwäche beim Ampelstart. Hier muss man kurzfristig noch einmal an die Leistungselektronik ran. Zufrieden sind sie mit den Pouch-Zellen des Akkupakets. Die kleine Anzeige ist auch nach längerer Fahrt nicht einmal auf 50 Prozent und zeigt noch über 140 Kilometer an. Das Akkuthema scheint man bereits im Griff zu haben.

Der Fahrer kann die Fahrstufen ähnlich des BMW i3 über einen Wählhebel rechts vom Instrumentendisplay einlegen. In Fahrstufe D rollt man auf der Landstraße lässig vor sich hin, während die B-Stellung mit kräftigerer Rekuperation das Einpedalfahren unterstützt.

Nach dem Marktstart sollen Modelle wie der I.D. Neo daheim nicht nur über einen Stecker, sondern auch induktiv geladen werden können – mit bis zu 11 kWh. Das wäre die Hälfte von dem, was eine heimische Ladebox bringen soll. An Hochgeschwindigkeitsladesäulen sollen etwa 120 kW möglich sein, doch auch daran wird noch eifrig geprobt.


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[1] https://www.heise.de/autos/artikel/Test-Hyundai-Nexo-4235048.html
[2] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-Audi-e-tron-4240778.html
[3] https://www.heise.de/autos/artikel/Fahrbericht-Jaguar-I-Pace-4115434.html
[4] https://www.heise.de/autos/artikel/Vorstellung-Mercedes-EQC-400-4154688.html
[5] https://www.heise.de/autos/artikel/Eine-Probefahrt-im-Messe-Ausstellungsstueck-VW-I-D-3643650.html
[6] https://www.heise.de/autos/artikel/Der-gedrehte-Latsch-1885968.html