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Das "eDifferenzial" ist ein Antriebsmodul mit neuen fahrdynamischen Möglichkeiten

Schaeffler entwickelt Elektroantrieb mit aktivem Differenzial

Technik mna/ggo

Im eDifferenzial von Schaeffler sind ein Elektro­motor und ein elektro­motorisch steuerbares Differenzial in ein Modul integriert. Das ergibt einen kompakten E-Antrieb mit neuen fahr­dynamischen Möglichkeiten

Herzogenaurach, 31. März 2011 – Äußerlich sieht er bis auf die Kriegsbemalung wie ein normaler Škoda Octavia Scout aus. Tatsächlich wird das Konzeptfahrzeug des Automobilzulieferers Schaeffler rein elektrisch betrieben, hat einen Allradantrieb und als eigentliche Besonderheit zwei aktive Elektrodifferenziale, genannt eDifferenziale. Sie integrieren den Antriebsmotor und das elektrische Differenzial in einem Gehäuse, das zentral in der Antriebsachse sitzt.

Torque Vectoring

"Das eDifferenzial erlaubt Eingriffe zur Fahrdynamik durch gezielte Kraftzuführung anstelle – wie bislang vom ESP gewohnt – mittels Bremseingriff und somit Energieentnahme", erklärt der zuständige Produktentwickler Peter Gutzmer. Das eDifferenzial soll zum Beispiel die Kraftübertragung beim Fahren auf Untergründen mit unterschiedlichen Reibwerten deutlich verbessern. Auch das Lenkverhalten kann es verbessern, weil eine Spurstabilisierung per Drehmomenteingriff dem Fahrer weniger Lenkarbeit abfordert. Der Einsatz von zwei eDifferenzialen ermöglicht zudem eine Längsverteilung der Antriebsmomente. Der Begriff eDifferenzial kann dabei durchaus in die Irre führen, weil die Längsverteilung nicht per Längsdifferenzial, sondern einzig durch unterschiedlichen Ansteuerung der E-Motoren vorne und hinten erfolgt.

Alles in einem

Das eDifferenzial ist ein relativ kompaktes Modul, das zwei unterschiedlich dimensionierte wassergekühlte Elektromotoren, ein Planetengetriebe, ein Getriebe zur aktiven Drehmomentverteilung und ein so genanntes Leichtbaudifferenzial integriert. Der größere Elektromotor, welcher maximal 105 kW leistet und ein Drehmoment von 170 Nm erzeugt, ist für den Antrieb zuständig. Die zweite E-Maschine regelt die Drehmomentverteilung und muss nur 5 kW Leistung aufbringen, um bis zu 2000 Nm Drehmomentdifferenz auf der Achse zu erzeugen. Dieser hohe Wert wird mit Hilfe eines Überlagerungsgetriebes bewerkstelligt, sodass der Einstellmotor recht klein ausfallen kann.

Als Energiespeicher für den Elektroantrieb fungieren Lithium-Ionen-Batterien mit einer Kapazität von 18 kWh. Sie sind im Kardantunnel und vor der Hinterachse untergebracht. Das 1,9 Tonnen schwere Konzeptauto beschleunigt in 8,5 Sekunden von null auf 100 km/h. Bei Tempo 150 wird das Fahrzeug elektronisch abgeregelt. Die Reichweite soll bis zu 100 Kilometer betragen.

Fahrdynamisch flexibel

Doch was sind die Vorteile des eDifferenzials? Zum einen ist eine radselektive Ansteuerung möglich, für die man ansonsten in der Regel Radnabenmotoren einsetzen würde. Sie haben zum einen den Nachteil großer ungefederter Massen. Laut Schaeffler ist aber auch (nur) ein Antriebsmotor die bessere Lösung hinsichtlich des Wirkungsgrades. Nicht zu unterschätzen ist auch die praktisch beliebige aktive Ansteuerung des per Elektromotor betätigten Differenzials. Ein herkömmliches Differenzial kann im besten Fall gesperrt werden, um Drehmoment zu verlagern – das eDifferenzial kann dagegen aktiv Drehzahlunterschiede der Räder bewirken, was neue Konzepte der Fahrdynamikregelung erlaubt.

Sogar die Rekuperation soll profitieren: Wenn zum Beispiel das Bremsmoment eines kurveninneren Rades wegen zu geringer Aufstandskräfte beschränkt ist, lässt sich das Bremsmoment des anderen Rades stärker nutzen, um im Generatorbetrieb Strom zu erzeugen.

Hybridfreundlich

Aus Sicht von Schaeffler dürfte allerdings auch eine Rolle spielen, mit dem eDifferenzial ein Komplettmodul anbieten zu können, nicht nur, weil es das Geschäft belebt. Es kann zum Beispiel in Fällen interessant sein, in denen es gar nicht um ein reines Elektroauto geht, sondern um Range-Extender- oder "normale" Hybridkonzepte. Ähnlich wie es PSA vorhat, lässt sich mit dem eDifferenzial eine Hinterachse elektrisieren, vorne kann ein Verbrennungsmotor arbeiten.

Für eine solche Anwendung bräuchte man auch nicht 105 kW Leistung, es würde weit weniger genügen. Ein Prototyp aus dem Jahr 2010 wog noch um die 140 Kilogramm. Wir gehen davon aus, dass ein eDifferenzial für Hybridanwendungen erheblich leichter ausfallen würde, zumal das im Škoda vorgestellte Modul längst noch kein Serienprodukt ist. Die insgesamt sehr kompakte Form eDifferenzials wurde laut Schaeffler übrigens überhaupt erst durch das bereits erwähnte Leichtbaudifferenzial [1] möglich: Im Vergleich zu einem herkömmlichen Kegelraddiffenzial erfordert es in axialer Richtung gut 70 Prozent weniger Bauraum.

Anregung aus der Zukunft

Schaeffler beabsichtigt nach eigener Aussage nicht, sich zum Getriebehersteller aufzuschwingen. Die Idee für das eDifferenzial hat demnach auch mit Regelstrategien zu tun, die der Zulieferer Continental zusammen mit der TU Darmstadt im Projekt "Proreta" verfolgt hat. Dabei geht es unter anderem um automatische Brems- und Ausweichmanöver, die natürlich einen elektronischen Eingriff in das Lenkverhalten des Fahrzeugs erfordern. Das eDifferenzial kann auch dabei einen Beitrag leisten, weil die gezielte Querverteilung der Drehmomente eine Lenkunterstützung möglich macht.


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https://www.heise.de/-1219206

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[1] https://www.heise.de/autos/artikel/Schaeffler-kuerzt-das-Differentialgetriebe-1147292.html