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PyroBrake greift ein, wenn ein Crash nicht mehr zu vermeiden ist

VW entwickelt pyrotechnisches Bremssystem

Technik ggo

Pyrotechnik einmal anders: Volkswagens Pyrobrake leitet nach 80 Millisekunden eine Vollbremsung ein, wenn ein Crash nicht mehr zu vermeiden ist – und reduziert die Aufprallgeschwindigkeit auf 5 km/h

Wolfsburg, 17.06.2008 – Sicherheitssysteme wie ESP, Spurhalteassistenten oder die automatische Distanzregelung ACC machen Autos zwar nicht wirklich intelligent, schärfen aber immerhin seine Sinne. Und je mehr Sensoren im Fahrzeug verbaut werden, desto mehr Funktionen lassen sich durch intelligentes Zusammenführen der Sensordaten verwirklichen.

Neue Ideen durch Sensordatenfusion
Ein Beispiel dafür ist das ESP, das sich unter anderem der Raddrehzahlsensoren bedient, die das ABS zur Verfügung stellt. Ursprünglich „nur“ dafür gedacht, ein Blockieren zu erkennen, wird diese Information beim ESP um weitere Sensordaten ergänzt, um ein Schleudern des Fahrzeugs zu verhindern. So teilt etwa der Lenkradsensor dem ESP-Steuergerät den „Fahrerwunsch“ mit, ein Gierratensensor informiert darüber, ob das Fahrzeug ausbricht. Doch es scheint so, als ob die „Sensorfusion“ erst richtig an Fahrt aufnimmt, seit auch Sensoren zur Umfeldüberwachung wie Radar- oder Kamerasysteme Einzug ins Fahrzeug finden.

PyroBrake holt das Letzte aus den Bremsen
So hat Volkswagen nun das „PyroBrake“-System vorgestellt, ein Bremssystem, das das Letzte aus den Bremsen herausholt, wenn die Umgebungssensorik einen unvermeidlichen Crash erkennt. Die PyroBrake ist eine kleine zusätzliche Kolbeneinheit am ABS-Steuergerät. Der Kolben wird im Notfall pyrotechnisch ausgelöst, was einen extrem schnellen Bremsdruckanstieg möglich macht. Ob ein solcher Notfall vorliegt, entscheidet eine Pre-Crash-Logik auf Grundlage von Daten, die eine Stereokamera sowie Radarsensoren mit 24 und 77 kHz zuliefern. Wird eine Situation erkannt, in der eine Kollision unvermeidlich erscheint, kann innerhalb von 80 Millisekunden eine Vollbremsung eingeleitet werden.

Rettungsanker im Notfall
Das System soll allerdings nicht dazu dienen, Unfälle zu verhindern. Vielmehr dient es als letzter Rettungsanker, um die Unfallschwere zu mildern, wenn ein Crash nicht mehr zu verhindern ist. Das passiert typischerweise auf Kreuzungen, beim Abbiegen oder beim Überqueren von Fuß- und Radwegen – dann also, wenn die Fahrzeugsensoren plötzlich Situationen erkennen, die durch eine normale Notbremsung nicht mehr zu verhindern sind. Selbst 100 bis 200 Millisekunden vor dem Crash kann das System noch ausreichend Geschwindigkeit abbauen, um die Unfallschwere zu verringern.

VW entwickelt pyrotechnisches Bremssystem

Sicher sehen, fehlerfrei handeln
Der schwierigste Teil von PyroBrake war die Auslegung des Gesamtsystems, daraus machen die Volkswagen-Ingenieure keinen Hehl. Das perfekte Auslösen und eine möglichst geringe Fehlalarm-Wahrscheinlichkeit stellte eine große Herausforderung an die Ingenieure. Die Lösung des Problems erforderte einen redundanten, also mehrfach abgesicherten Sichtbereich der vorausschauenden Sensoren, in deren schnellen, flexiblen Zielerkennung und Zielverfolgung, sowie in einer „optimierten Objektwahrnehmung“. So erklärt sich auch, warum PyroBrake zwei Radarsysteme und eine Stereokamera benötigt.

Aufprallgeschwindigkeit auf 5 km/h reduziert
Zwar ist das System noch nicht serienreif, aber es funktioniert laut Volkswagen bereits hervorragend. Die Tests auf Grundlage synthetische Daten und tausender Testkilometer hätten ergeben, dass PyroBrake allen anderen heutigen Notbremseinrichtungen überlegen sei. Im Mittel habe das System die Aufprallgeschwindigkeit auf 5 km/h reduziert – mitunter eine Welt, wie VW sagt. Wann die PyroBrake in Serie kommen könnte, sagen die Wolfsburger dagegen noch nicht. Auf jeden Fall ist sie aber ein gutes Beispiel dafür, wie Sensorfusion neue Anwendungen möglich macht. Zudem dürfte allein die „optimierte Objektwahrnehmung“ die Arbeit wert sein. Denn der Erfolg neuer Fahrerassistenzsysteme hängt nicht nur von den Sensoren ab, sondern vor allem davon, ob „das Gehirn“ des Autos etwas mit diesen Informationen anfangen kann.


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