Agilität führt zu 268 Prozent mehr Fehlschlägen – kann das sein?

Agilität ist angetreten, produktiver Software zu entwickeln. Eine Studie zeigt aber mehr Fehlschläge. Das sagt mehr über unsere Branche aus als über Agilität.

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(Bild: LanKS/Shutterstock.com)

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Von
  • Eberhard Wolff
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Eine Studie will zeigen, dass agile Softwareentwicklung angeblich eine 268 Prozent höhere Chance für Fehlschläge mit sich bringt. So ein massiver Nachteil muss eigentlich dazu führen, dass alle sofort aufhören, überhaupt irgendwelche Projekte agil durchzuführen.

Continuous Architecture – Eberhard Wolff

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Eberhard Wolff

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Eberhard Wolff ist Head of Architecture bei SWAGLab und arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als Architekt und Berater, oft an der Schnittstelle zwischen Business und Technologie. Er ist Autor zahlreicher Artikel und Bücher, u.a. zu Microservices und trägt regelmäßig als Sprecher auf internationalen Konferenzen vor. Sein technologischer Schwerpunkt sind moderne Architektur- und Entwicklungsansätze wie Cloud, Domain-driven Design und Microservices.

Wie kommen die Zahlen zustande? Die Studie stellt zunächst fest, dass folgende Faktoren den Erfolg von Softwareentwicklungsprojekten verbessern:

  • Requirements sind vor dem Start des Projekts klar (97 Prozent mehr erfolgreiche Projekte).
  • Möglichkeit Probleme können schnell diskutiert und adressiert werden (87 Prozent).
  • Projekt-Requirements basieren auf realen Problemen (54 Prozent).
  • Das Projekt hat eine vollständige Spezifikation oder ein vollständiges Requirements-Dokument, bevor die Implementierung startet (50 Prozent).
  • Es gab keine signifikanten Änderungen der Requirements später im Entwicklungsprozess (7 Prozent).

Keinen erheblichen Einfluss hatte hingegen, ob Menschen an einem oder mehreren Projekten gleichzeitig arbeiten.

Die Studie definiert agile Entwicklung als Projekte, bei denen Folgendes gilt:

  • Die Entwicklung startet, bevor die Requirements klar sind,
  • es gibt keine vollständige Spezifikation und
  • es gibt signifikante Änderungen spät im Projekt.

Zusammen führt das zu 268 Prozent mehr Fehlschlägen und 65 Prozent gescheiterten Projekten. Das Zahlenmaterial ist auch mit passenden statistischen Werten ausgestattet und wirkt daher überzeugend.

Das erste Problem der Studie ist die fehlende Definition von "Fehlschlag". Ein mögliches Kriterium wäre, dass die Projekte nicht im Budget geliefert wurden. Das ist aber ein eigentümliches Ziel für ein Individualsoftwareprojekt. Wenn man Software möglichst billig haben will, sollte man sie nicht selbst entwickeln, sondern Standardsoftware kaufen. Das ist sinnvoll für Bereiche, in denen man die Flexibilität einer eigenen Implementierung nicht benötigt. Mir wäre beispielsweise nicht klar, warum man eine Finanzbuchhaltung selbst implementieren würde.

Vielleicht sind mit höheren Kosten ein höherer Wert verbunden, weil mehr Features umgesetzt und so vielleicht sogar mehr Umsatz und Gewinn erzielt werden? Ist das Projekt dann ein Fehlschlag?

Eine weitere Möglichkeit, "Fehlschlag" zu definieren wäre, wenn der Auftraggeber am Ende des Projekts vom Ergebnis enttäuscht ist. Das ist vielleicht sinnvoll, aber kein rationales Kriterium. Kunden können aus den unterschiedlichsten Gründen enttäuscht werden. Unterschiedliche Stakeholder können unterschiedlich zufrieden mit dem Ergebnis sein.

Die Definition von "Fehlschlag" ist keine Frage ohne praktische Auswirkungen. Ich habe selbst in Projekten mitgearbeitet, die offiziell ein Erfolg waren, aber subjektiv erhebliche Probleme hatten oder vorab definierte Projektziele nicht erreicht haben. Es geht schlimmer: Einige Projekte haben gar keine echten Projektziele – wie soll man dann über einen Fehlschlag oder Erfolg entscheiden?

Eigentlich könnte man jetzt schon damit aufhören, die Studie genauer zu betrachten. Aber die Studie hat noch viele weitere Probleme.

Die Studie behauptet, dass es hilfreich ist, wenn Requirements vor dem Start des Projekts bekannt sind, die Spezifikation vollständig ist und signifikante Änderungen spät im Projekt unterbleiben. Ich muss gestehen: Mein Erstaunen darüber wie auch über die anderen Ergebnisse der Studie hält sich in engen Grenzen. Mehr Informationen am Anfang und weniger Änderungen im Verlauf des Projekts machen Projekten das Leben sicher einfacher. Man könnte so ein Projekt als langweilig bezeichnen. Aus der Sicht der Umsetzer ist das super, weil das Projekt eben mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich ist. Aus Sicht der Auftraggeber erscheint es aber unwahrscheinlich, dass ein solches Projekt einen hohen Wert hat. Wenn man etwa einen neuen Markt schneller als der Wettbewerb mit einem neuen digitalen Produkt besetzen will, sind vermutlich die Requirements nicht klar, die Spezifikation unvollständig und es werden sich auch spät im Projekt Änderungen ergeben, weil schlicht nicht klar ist, was die Kunden genau wollen und wie der Markt aussieht. Niemand kann das wissen. Die Kunden greifen erst zu, wenn ihnen das Projekt gefällt.

Genau in dem Fall kann Agilität ihre Stärken ausspielen. Ich glaube sofort, dass solche Projekte öfter von der ursprünglichen Planung abweichen und das kann man einen Fehlschlag nennen. Aber was ist die Konsequenz? Solche Projekte einfach nicht angehen und eine solche Markt-Chance nicht ergreifen? Maßnahmen ergreifen, um doch Stabilität vorzutäuschen, die dann aber das Projekt behindern?

Anders gesagt: Gerade die Projekte, die laut der Studie öfter fehlschlagen, sind vielleicht die Projekte, die einen besonders hohen Wert generieren.

Angeblich orientiert sich die Definition von Agilität aus der Studie am agilen Manifest. Also sollte das agile Manifest irgendwo etwas enthalten im Sinne von: "Wenn am Anfang des Projekts Anforderungen klar sind, und eine vollständige Spezifikation vorliegt, lösche dieses Dokument und sorge dafür, dass sich niemand an die Anforderungen und die Spezifikation erinnert – sonst genügt das Projekt nicht diesem Manifest." Und ebenso müsste da irgendwo "Wenn sich im Projekt später keine signifikanten Änderungen ergeben, dann erfinde welche – sonst genügt das Projekt nicht diesem Manifest" stehen. Ich habe nachgeschaut: Das steht nicht im agilen Manifest und es gibt auch keinen Absatz, der sich so interpretieren ließe. Im Gegenteil: Das agile Manifest wägt Optionen wie das Befolgen eines Plans und das Reagieren auf Änderungen ab – und legt den Fokus auf eins, in dem Beispiel das Reagieren auf Änderungen, ohne dass die andere Option als unwichtig bewertet wird – nur eben als weniger wichtig. Auf eine Änderung zu reagieren erscheint tatsächlich sinnvoller, als an dem festen Plan festzuhalten, der die Änderung noch gar nicht betrachtet haben kann.

Die Studie basiert übrigens auf einer Umfrage unter 600 Software Engineers. Umfragen können immer nur das subjektive Bild der befragten Person abbilden – in diesem Fall also die der Software Engineers. Da eine Softwareentwicklung eine wirtschaftliche Investition ist, wäre es sinnvoll andere Gruppen, insbesondere unterschiedliche Stakeholder ebenfalls zu befragen. Schließlich geben sie die Projekte in Auftrag. Wer könnte also besser bewerten, ob das Projekt wirklich ein Fehlschlag ist.

Und die Studie lässt noch eine Frage unbeantwortet: Wie viele Projekte haben denn klare Requirements? 10 Prozent? 25 Prozent? 90 Prozent? Man kann aus der Studie nur entnehmen, dass es eine genügend große Anzahl sein muss, um statistisch signifikante Aussagen zu treffen. Wenn sehr viele Projekte unklare Requirements haben, wäre das ein Hinweis auf ein wichtiges Problem. Ob und wie man es lösen kann, ist dann die nächste Frage – und die ist nicht so einfach zu beantworten. Requirements kann man sich ja nicht einfach wünschen, sondern gegebenenfalls sind sie wie erwähnt prinzipienbedingt unklar.

Eigentlich ist die Studie keinen Blogpost wert. Sie ist ein durchsichtiges Manöver, um agile Softwareentwicklung zu diskreditieren und einen anderen Ansatz zu promoten. Aber die Studie hat dennoch Einfluss – mir sind in zwei unterschiedlichen Kontexten Hinweise auf die Studie untergekommen. Das ist nachvollziehbar: 268 Prozent ist eine krasse Zahl und das Ergebnis ist überraschend, weil Agilität ja eigentlich mehr Erfolg erreichen sollte. Da muss man einfach hineinschauen! Wenn man das wirklich tut, wird schnell klar, was für ein Unsinn da steht. Ein YouTube-Video hat die Zahl genutzt, um andere Aspekte von Agilität zu kritisieren, also nicht die Probleme mit Requirements, die die Studie erläutert. Unabhängig davon, ob die Kritik berechtigt ist: Das Video nutzt die absurde Zahl aus der Studie, um Aufmerksamkeit zu generieren.

Wenn wir in unserer Branche so vorgehen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir nicht lernen, was wirklich hilft und so kein Fortschritt erzielt wird. Dabei wird die kritische Arbeit mit Quellen schon in der Schule gelehrt.

Ob Agilität nun "gut" oder "schlecht" ist, können wir mit der Studie nicht beantworten. Aber: Dass wir Software in Iterationen erstellen müssen, hat sich in der Praxis historisch sehr früh gezeigt – im Prinzip als Menschen angefangen haben, Software in Teams zu entwickeln. Und zwar auch, wenn man anders als in agilen Projekten relativ stabile Anforderungen hat. Das wird klar, wenn man Pionieren und Pionierinnen wie Prof. Christiane Floyd zuhört. Zu dem Thema habe ich auch einen Vortrag gehalten. Dass es Projekte gibt, die gut daran tun, beispielsweise auf Änderungen zu reagieren, statt einem Plan zu folgen, sollte auch klar sein. Das wirkliche Problem ist vielleicht, dass Agilität als Begriff mittlerweile verbrannt ist, weil in der Realität "agile" Prozesse eingeführt werden, die nicht den ursprünglichen Ideen entsprechen und auch nicht sonderlich hilfreich sind.

Unsere Branche ist anfällig für tendenziöse Studien. Das ist schade. Krasse Behauptungen erzeugen Aufmerksamkeit.

(rme)