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Die einzige Best Practice: Keine Best Practice nutzen

Eberhard Wolff

Softwaresysteme sind kompliziert. Best Practices für den Systementwurf könnten dabei helfen, die Komplexität möglichst einfach zu bändigen. Leider nützen sie wenig.

Softwaresysteme sind kompliziert. Best Practices für den Systementwurf könnten dabei helfen, die Komplexität möglichst einfach zu bändigen. Leider nützen sie wenig.

Dave Snowden teilt mit dem Cynefin [1]-Framework [2] Probleme, Systeme und Aufgaben in unterschiedliche Domänen ein:

Diese Blog-Post kann keine vollständige Einführung in das Cynefin-Framework sein. Aber aus dem Cynefin-Framework ergibt sich, dass Best Practices nur bei einfachen Systemen mit klaren Ursache-Wirkung-Beziehungen sinnvoll sind. Softwaresysteme sind jedoch in den meisten Fällen nicht nur technologisch komplex: Die Entwicklung findet in einem komplexen sozialen System statt, in dem die verschiedenen Rollen im Entwicklungsteam mit den Stakeholdern interagieren. Wie das technologische Softwaresystem auf der einen und die soziale Entwicklungsstruktur auf der anderen Seite miteinander interagieren, lässt sich schwer vorhersagen. Wir reden also von komplizierten oder komplexen Systemen. Es mag Ausnahmen geben, aber einfache Systeme rechtfertigen wohl kaum den Aufwand für die Implementierung von Individualsoftware, weil die Probleme eben einfach lösbar sind – beispielsweise durch Standardsoftware.

Wenn Softwareprojekte aber komplex oder kompliziert sind, dann gibt es in der Softwareentwicklung im Wesentlichen nur Good Practices oder gar Emergent Practices. Wer also einfach Ansätze aus einem anderen Kontext übernimmt und auf Best Practices setzt, wählt gegebenenfalls eine für diese Aufgabe ungeeignete Lösung. Wir arbeiten an einer Aneinanderreihung von unterschiedlichen, speziellen Herausforderungen und müssen uns jedes Mal auf diese andere Umgebung passend einstellen und Lösungen anbieten, die den aktuellen Herausforderungen gerecht werden.

Wer dennoch auf Best Practices setzt, macht es den am Projekt Beteiligten schwer, die gewählten Ansätze zu hinterfragen. Schließlich sind es ja Best Practices. Aber in Wirklichkeit können sie eben ungeeignet sein, weil man in einer anderen Domäne ist. Daher finde ich Aussagen wie "Microservices sind eine Architektur-Best-Practice" oder "Monolithen sind eine Architektur-Best-Practice" nicht hilfreich. Aber natürlich ist es sinnvoll, sich mit Ansätzen zu beschäftigen, die in einem bestimmten Kontext erfolgreich waren, und davon zu lernen.

Der Umgang mit Good oder Best Practice kann auch darüber hinaus problematisch sein. In einem mir bekannten Projekt haben Architekt:innen Schnittstellen, die nur zwei Teams nutzen, als Best Practice kommuniziert. Da immer nur zwei Teams beteiligt sind, können die Schnittstellen einfacher geändert und abgestimmt werden, als wenn mehrere Teams die Schnittstellen nutzen. Wenn man also mehreren Teams Funktionalitäten anbieten will, kann man für jedes Team eine Schnittstelle umsetzen, um so unabhängig zu arbeiten.

Eines der Teams in dem Projekt hatte diese Idee befolgt, obwohl die Schnittstellen relativ ähnlich waren und sich absehbar nicht ändern würden. Der Vorteil der Unabhängigkeit bei Änderungen ist also in diesem Fall unerheblich. Dennoch hat das Team keine einheitliche Schnittstelle umgesetzt. Diese Alternative hatte das Team selbst als bessere bewertet. Ohne die kommunizierte Best Practice der Architekt:innen hätte das Team vielleicht schon früher den eigenen, besseren Ansatz nutzen können. Denn natürlich hat der Ansatz mit vielen Schnittstellen Nachteile. Es entsteht so eine Vielzahl von Schnittstellen, die gewartet und implementiert werden müssen.

Die kommunizierte Best Practice ist vielleicht also nur eine Good Practice – oder der Kontext, in dem sie eine Best Practice ist, muss genauer definiert werden. Der zentrale Punkt ist, dass kommunizierte Best oder Good Practices dazu verleiten, diesen Beispielen einfach zu folgen und eigene, bessere Lösungen nicht zu nutzen. Daher sollte man solche Ansätze immer kritisch hinterfragen.

Entscheidungsvorlagen mit Kernfragen sind flexibler und können bei der Entscheidung zwischen verschiedenen Best oder Good Practices helfen. Solche Vorlagen finden viele nützlich, aber auch sie schränken den Lösungsraum ein, weil sie niemals alle denkbaren Fälle abdecken können.

Am Ende werden also die am Projekt Beteiligten individuelle Entscheidungen treffen und verantworten müssen. Sie müssen sie auch begründen. Sich hinter einer Best Practice oder einem "Das macht man heute so!" zu verstecken, ist nicht ausreichend.

Außerdem gibt es unterschiedliche Good Practices. Wenn also jemand einen Ansatz wählt, der vom eigenen bevorzugten Ansatz abweicht, kann das immer noch eine Good Practice sein – oder gar eine Emergent Practice, die speziell auf die Herausforderung angepasst ist. Dann sollte man sich davon verabschieden, die eigene “Best Practice” zu empfehlen. Natürlich kann der gewählte Ansatz gar keinen Sinn ergeben – dann kann man sicherlich einen anderen empfehlen.

Softwareentwicklung ist oft für Best Practices zu komplex. Sie können zwar Orientierung geben, werden sie aber ohne kritische Reflektion angewendet, können für die spezifische Herausforderung suboptimale Architekturentwürfe entstehen.

Vielen Dank an meine Kolleg:innen Robert Glaser, Anja Kammer, Martin Kühl, Joachim Praetorius und Hermann Schmidt für die Kommentare zu einer früheren Version des Artikels. ( [3])


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4872398

Links in diesem Artikel:
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Cynefin-Framework
[2] https://www.cybay.de/blog/das-cynefin-framework/
[3] mailto:eberhard.wolff@gmail.com