Die vielen Welten des Hugh Everett

Vom kalten Krieg zum kalten Herz: Ein enttäuschtes, brilliantes, zerstörerisches Kind seiner Zeit.

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Von
  • Peter Glaser

Angefangen hatte es damit, dass ich mal nachsehen wollte, ob Erwin Schrödinger – der mit Schrödingers Katze – auch im wirklichen Leben eine Katze hatte. Es heißt, er habe in den drei Jahren von 1933 bis 1936, die er in Oxford verbrachte, einen Kater namens Milton besessen. Eine Quelle zu der im Internet weitverbreiteten Angabe gibt es zwar nicht, aber immerhin wird ihm das Tier auch in Physics Today zugeordnet. In der 1948 gegründeten Mitgliederzeitschrift des American Institute of Physics haben schon Größen wie Albert Einstein, Niels Bohr und Richard Feynman geschrieben. Nach Ansicht der Redaktion könne Milton die Erklärung dafür sein, weshalb Schrödinger für sein berühmtes Gedankenexperiment 1935 eine Katze und kein anderes Tier verwendet hat.

Schrödinger war der erste Quantenmechaniker. Er hat die Quantenmechanik erdacht. Und immer wenn ich in die Nähe der Quantenmechanik komme, flüchtet, wie am Rand eines schwarzen Lochs, meine Fähigkeit, etwas zu verstehen hinter den Ereignishorizont. Ich muss also sagen: Ich glaube, dass ich mich für Quantenmechanik und all diese Dinge interessiere. Wenn ich etwas nicht verstehe, fange ich an, mich serendipisierend, also unsystematisch, einzulesen. An diesem Mangel an strukturiertem Lernen erkennt man den Autodidakten. Ein Aufsatz erzählte von einem Physiker, der 1977 zu einer Präsentation seiner Ideen an die University of Texas in Austin eingeladen worden war. Er kam in einem zerknitterten Anzug und rauchte Kette. Seinetwegen wurde das erste und einzige Mal das Rauchverbot an den Uni suspendiert. Sein Name war Hugh Everett.

Die Anekdote hatte es mir auch deshalb angetan, weil ich das genau passende Gegenstück dazu hatte. Im August 1989 hatte in Amsterdam die erste Galactic Hacker Party stattgefunden. Einer der Gäste war John Draper aka Cap'n Crunch – der mit der Trillerpfeife aus der Cornflakesschachtel –, der danach noch den Chaos Computer Club in Hamburg besuchte. Das Treffen sollte in meiner Wohnung stattfinden, die bereits die wöchentlichen Redaktionssitzungen der Datenschleuder gewohnt war. Die meisten Clubmitglieder, mich eingeschlossen, waren damals starke Raucher und Draper hatte mitgeteilt, dass er sofort wieder gehen würde, sollte auch nur ein Molekül Tabakrauch in der Luft wahrnehmbar sein. Ein Bild für die Götter: der ganze CCC auf Nikotinentzug, wartete auf sein Idol. Und es gab noch mehr, das sich in seiner Gegensätzlichkeit ergänzte. Während Draper eine Fitnesspielart namens Stretching betrieb, lebte Everett so ungesund wie möglich, er rauchte, trank und hatte Übergewicht. Er starb 1982, gerade mal 51 Jahre alt, im Schlaf an einem Herzinfarkt.

Hugh Everett III hat die Welt verändert, aber kaum jemand kennt ihn. Physiker kennen ihn, denn von ihm stammt die Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik, weshalb, ohne dass sie es wissen dürften, auch die meisten Science-Fiction-Freunde Everett-Fans sind. Ende der 1960er-Jahre hatte Bryce DeWitt, Herausgeber des Wissenschaftsmagazins "Reviews of Modern Physics", zusammen mit seinem Doktoranden Neill Graham ein Buch mit physikalischen Abhandlungen veröffentlicht, die auf Everett zurückgingen, "The Many-Worlds Interpretation of Quantum Mechanics". Der Begriff "Viele Welten" blieb hängen, SF-Zeitschriften wie "Analog" trugen zu seiner Popularisierung bei.

In dem Buch wurde auch zum ersten Mal die ungekürzte Fassung von Everetts Dissertation aus dem Jahr 1957 veröffentlicht. Sie war einem Konflikt zum Opfer gefallen, an dem sein Doktorvater in Princeton, John Wheeler, beteiligt war. Everett hatte mit seinem Dissertationsentwurf Neuland betreten und eine mathematisch konsistente Theorie einer universellen Wellenfunktion aus den Gleichungen der Quantenmechanik selbst abgeleitet (Die mögliche Existenz mehrerer Universen folgte aus seiner Theorie). Sein Ansatz stellte die gängige Lehrmeinung, die sogenannte Kopenhagener Deutung, in Frage. Wheeler zögerte, die Begründer der Quantenmechanik, allen voran Niels Bohr, herauszufordern und spielte Everetts Arbeit herunter. Im April 1957 akzeptierte die Universität Everetts Dissertation – nachdem er sie, mit äußerstem Widerwillen, auf ein Viertel ihres ursprünglichen Umfangs verzwergt und sie ihre Seele verloren hatte. Es gab keine Reaktionen auf seine Arbeit und Everett beschloss, eine Forschungsstelle im Pentagon anzunehmen, Er kehrte nie wieder zur theoretischen Physik zurück.

Nicht nur als Theoretiker hat Hugh Everett die Welt verändert. Bereits sein erstes Projekt für das Pentagon war eine einflußreiche Studie zur Berechnung potenzieller Sterblichkeitsraten durch radioaktiven Fallout in einem Atomkrieg. Bald darauf leitete er die Mathematikabteilung in der fast unsichtbaren, aber äußerst einflussreichen Weapons Systems Evaluation Group (WSEG) des Pentagon, für die er von 1956 bis 1964 tätig war. 1960 nahm er an der Abfassung von WSEG Nr. 50 teil, einem Bericht, der bis heute der Geheimhaltung unterliegt. Historikern und einem ehemaligen Kollegen zufolge legte WSEG Nr. 50 militärische Strategien für Jahrzehnte fest, etwa das Konzept eines Gleichgewicht des Schreckens.

1964 gründete Everett mit einigen WSEG-Kollegen ein privates Rüstungsunternehmen, die Lambda Corporation. Sie erstellte unter anderem mathematische Modelle für anti-ballistische Raketensysteme und computergestützte Nuklearkriegsspiele, die jahrelang vom Militär genutzt wurden. Die Firma machte ihn zum Millionär. Während er seine unternehmerische Karriere verfolgte, begann man in der kryptischen Welt der theoretischen Physik langsam, seiner einst ignorierten Theorie nunmehr Aufmerksamkeit zu widmen. Heute nehmen viele Physiker Everetts Theorie ernst, auch wenn sich nicht alle darüber einig sind, ob damit auch das Ende der Kopenhagener Deutung gekommen ist.

Auch wenn die Quantenmechanik nichts mit unserer Alltagsrealität zu tun hat, erlebte Everett ein paar von vielen kontroversen Welten selbst. 1996 nahm sich seine Tochter Elizabeth das Leben und hinterließ einen Zettel in ihrer Handtasche, auf dem stand, dass sie sich zu ihrem Vater in ein anderes Universum begeben würde. Sein Sohn Mark ist erfolgreicher Songwriter und Leadsänger der Rockband Eels. In "Things the Grandchildren Should Know" heißt es "Ich habe nie wirklich verstanden, wie es für ihn gewesen sein muss, in seinem Kopf zu leben."

(bsc)