Nur Mut! – Endlich raus aus der Scrum-Hölle

Viele Entwicklerinnen und Entwickler leiden unter Scrum, doch kaum jemand wehrt sich gegen dessen Einsatz im Unternehmen. Woran liegt das?

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Aufmacher Scrum

(Bild: erstellt mit Dall-E durch iX-Redaktion)

Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Golo Roden
Inhaltsverzeichnis

Vor zwei Wochen habe ich einen Blogpost veröffentlicht, der die Frage behandelte, warum niemand mehr agil arbeiten möchte. Und was soll ich sagen: Der Blogpost hat anscheinend einen Nerv getroffen. Das zugehörige Video auf YouTube erreichte innerhalb der ersten 24 Stunden fast 19.000 Aufrufe. Das ist gut und gerne das fünf- bis zehnfache dessen, was wir normalerweise erwarten. Anders als sonst nahmen die Aufrufe am zweiten Tag nicht ab – im Gegenteil, sie stiegen weiter an. Inzwischen sind wir bei über 80.000 Aufrufen, und wenn wir in ein paar Tagen wieder nachsehen, werden wir voraussichtlich die Marke von 100.000 Aufrufen überschritten haben. Doch das ist noch nicht alles: Wir haben für das Video auch über 2.000 Likes und mehr als 400 Kommentare erhalten.

the next big thing – Golo Roden

Golo Roden ist Gründer und CTO von the native web GmbH. Er beschäftigt sich mit der Konzeption und Entwicklung von Web- und Cloud-Anwendungen sowie -APIs, mit einem Schwerpunkt auf Event-getriebenen und Service-basierten verteilten Architekturen. Sein Leitsatz lautet, dass Softwareentwicklung kein Selbstzweck ist, sondern immer einer zugrundeliegenden Fachlichkeit folgen muss.

Auch der eingangs erwähnte Blogpost kann sich sehen lassen, mit inzwischen mehr als 600 Kommentaren. Kurz gesagt: Wir sind überwältigt. Damit hätten weder meine Kolleginnen und Kollegen noch ich selbst bei diesem Thema gerechnet, zumal es nicht das erste Mal war, dass wir Scrum & Co. kritisiert haben. Die Resonanz war dieses Mal jedoch einfach gigantisch, und dafür möchte ich mich als allererstes ganz herzlich bedanken!

Wir haben uns überlegt, dass es aufgrund des hohen Anklangs sinnvoll wäre, noch einen zweiten Teil des Blogposts zu schreiben. Dafür war es uns aber wichtig, alle Kommentare (also insgesamt über 1.000 Stück) zu lesen, um ein umfassendes Bild aller Meinungen zu erhalten. Irgendwann habe ich dann auch aufgehört, auf die Kommentare zu antworten, das war zeitlich einfach nicht mehr machbar, aber ich habe sie zumindest tatsächlich alle gelesen. Das ist auch der Grund, warum vergangene Woche kein Blogpost und kein Video veröffentlicht wurden: Wir waren einfach noch nicht so weit, und es kamen täglich jede Menge weitere Kommentare hinzu, sodass wir uns entschieden haben, noch eine Woche abzuwarten. Heute, rund zwei Wochen später, ist es nun aber so weit, und hier ist nun der besagte zweite Teil.

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Wenn man sich diese über 1.000 Kommentare anschaut, fällt auf, dass die meisten in eine bestimmte Richtung gehen. Die Mehrheit der Kommentare stammt von Entwicklerinnen und Entwicklern, die beklagen, dass Scrum vom Management zweckentfremdet wird, um mehr Kontrolle auszuüben. Scrum wird also nicht so eingesetzt, dass sich ein Team damit selbst organisiert, wie es bei agilen Methoden eigentlich vorgesehen ist, sondern es wird als Projektmanagement-Werkzeug verwendet, dem alles andere untergeordnet wird.

Statt "Individuals and Interactions over Processes and Tools" (wie es im agilen Manifest formuliert ist) passiert genau das Gegenteil: Scrum dominiert als Prozess alles. Dadurch wird Agilität im Keim erstickt, weil sie offensichtlich nicht gewünscht ist. Die traurige Wahrheit ist, dass in vielen Unternehmen nicht einmal Fake Agile vorherrscht, sondern eine schlimmere Variante: Dark Agile. Dabei geht es nur darum, auf dem Papier gut auszusehen, während Scrum in Wirklichkeit als Kontroll- und Steuerungsinstrument missbraucht wird. Genau das habe ich im letzten Blogpost als die schlimmste Variante beschrieben, wie man Agilität falsch leben kann.

Auffällig war auch, dass sich praktisch alle Beschwerden auf Scrum bezogen haben. Kaum jemand kritisierte Extreme Programming (XP) oder Kanban. Es ging immer nur um Scrum. Das führt uns zu dem, was ich im letzten Blogpost als den "agil-industriellen Komplex" bezeichnet habe, nämlich die Geldmacherei mit Zertifikaten und dergleichen. Nur sieht das Ganze in der Realität offenbar noch schlimmer aus, als ich es auf Basis meiner eigenen Erfahrung angenommen habe.

Fairerweise muss man jedoch sagen, dass Scrum oft nicht das eigentliche Problem ist. Viele Kommentatoren wiesen darauf hin, dass die Ursache tiefer liegt, nämlich bei einem Management, das ohne Realitätsbezug agiert und dem Kunden das Blaue vom Himmel verspricht, um mehr Umsatz und Gewinn zu machen. Dass dafür ausgerechnet Scrum herangezogen wird, verwundert wenig: Mit XP würde das nämlich nicht funktionieren, weil XP sich nicht um den organisatorischen Rahmen kümmert, sondern um den Entwicklungsalltag. XP bietet konkrete Best Practices, um Qualität und Effizienz zu steigern.

Deswegen finde ich persönlich XP auch weitaus sympathischer als Scrum: Es ist konkret, praxisorientiert und nicht so ein Pseudo-Blabla für Möchtegern-Manager. Dennoch kann man Scrum nur bedingt die Schuld geben. Denn wenn das Management keine Kontrolle abgeben will, wird es mit jeder Methode schwierig, positive Veränderungen herbeizuführen. Mit Scrum lässt sich das nur eben besonders gut verschleiern.

Etwas anderes ist uns aber auch noch aufgefallen: Viele Entwicklerinnen und Entwickler klagen über ihre Situation, aber kaum jemand unternimmt etwas dagegen. Wenn man genauer hinschaut, merkt man jedoch rasch, dass viele schlicht aufgegeben haben. Der Mut und die Kraft, sich gegen das Management oder die Prozesse zu wehren, sind einfach nicht mehr vorhanden.

Das finde ich persönlich sehr traurig. Softwareentwicklung kann so ein kreatives und schönes Feld sein, aber wenn das durch Kontrollsucht und Gier kaputt gemacht wird, ist das wirklich schlimm. Aber genau darüber müssen wir heute einmal sprechen: Was können Sie machen, wenn Ihnen auffällt, dass in Ihrem Unternehmen etwas schiefläuft, weil Scrum zwar auf dem Papier verwendet wird, sich aber alles nach dem genauen Gegenteil von Agilität anfühlt?

Bevor Sie jetzt sagen

"Das hat doch alles keinen Sinn, es ändert sich ohnehin nichts!"

lassen Sie mich eins sagen: Natürlich kann ich Ihnen nicht garantieren, dass sich etwas ändern wird, wenn Sie versuchen, das Thema anzugehen. Aber ich kann Ihnen mit Gewissheit sagen, dass sich rein gar nichts ändern wird, wenn Sie es nicht zumindest versuchen. Anders gesagt: Wenn Sie den Kopf in den Sand stecken, haben Sie schon verloren, bevor das Rennen überhaupt begonnen hat.

Ich kann nachvollziehen, dass es oft leichter ist, den Mund zu halten, insbesondere wenn Sie denken, dass Ihre Geschäftsführerin oder Ihr Geschäftsführer entgegengesetzter Meinung ist. Aber es gibt einen wichtigen Punkt: Nicht jeder Manager oder jede Managerin ist gleich. Sicherlich setzen manche Scrum durchaus bewusst so ein, wie es in den Kommentaren beschrieben wurde, aber andere wissen vielleicht gar nicht, dass es besser laufen könnte, oder ahnen nicht, wie unzufrieden Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen sind. Das werden Sie nur herausfinden, wenn Sie es versuchen.

Und übrigens: Auch ich bin Geschäftsführer und Manager, aber wir bei the native web machen trotzdem kein Scrum. Tatsächlich bin ich sogar derjenige bei uns, der sich mit Abstand am stärksten dagegen wehrt. Anstelle von Scrum haben wir einen eigenen agilen Prozess entwickelt, der für uns gut funktioniert und sehr anders abläuft als Scrum, aber dennoch auf den Prinzipien des agilen Manifests basiert.

Es ist dabei aber wichtig zu verstehen, dass nicht jeder Prozess automatisch zu jedem Team passt. Der richtige Prozess hängt immer von den jeweiligen Umständen ab, und was heute sinnvoll ist, kann übermorgen schon nicht mehr passend sein. Deshalb sollte man den Status quo regelmäßig hinterfragen. Das ist daher übrigens auch eine der ersten Sachen, die ich neuen Kolleginnen und Kollegen bei uns sage:

"Wenn dir bei uns etwas auffällt, sprich das bitte sofort offen und ehrlich an. Entweder gibt es eine gute Begründung, warum wir etwas so handhaben, oder wir überlegen, ob wir etwas ändern sollten."

Denn, ganz im Sinn des agilen Manifests: Prozesse und Werkzeuge sollen die Menschen unterstützen, nicht umgekehrt. Deshalb stelle ich unseren Prozess auch nicht als Allheilmittel dar – denn er funktioniert für uns, aber das heißt nicht, dass er für Sie und Ihr Team genauso gut passt. Das hängt einfach zu sehr von den individuellen Anforderungen ab.

Aber werden wir konkret: Angenommen, Sie sind der Meinung, dass der Prozess in Ihrem Unternehmen ineffizient oder bürokratisch ist, dass er wenig agil ist und Sie aber gerne agil arbeiten würden. Vielleicht haben Sie das Gefühl, dass es oft nur darum geht, dass jemand in der Hierarchie über Ihnen auf dem Laufenden gehalten wird, und die typischen Scrum-Artefakte wie Sprints und Dailys sind verzerrt. Beispielsweise dauern Ihre Sprints zwei Monate, Sie haben mehrere Product Owner, aber keinen Scrum Master, das Daily ist ein klassisches Statusmeeting, und die Retrospektive läuft immer nach dem gleichen Schema ("was läuft gut, was läuft schlecht, was ändern wir") ab. Und dann wird auch noch in Stunden und Minuten geschätzt, statt in Story Points. Falls Ihnen das bekannt vorkommt, habe ich noch eine passende Videoempfehlung für Sie.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Sie überzeugt sind, dass sich etwas ändern muss. Die gute Nachricht ist: Sie sind wahrscheinlich nicht allein. Die schlechte: Genauso wie die anderen schweigen Sie höchstwahrscheinlich. Warum? Nun, ganz einfach: Die meisten haben schlicht und ergreifend Angst. Denn obwohl oft gesagt wird, dass man sich den Job in der Entwicklung praktisch aussuchen könne, möchte trotzdem niemand negativ auffallen und deshalb womöglich gar den Job verlieren. Viele geben das nicht gerne zu, aber es ist die Wahrheit: Die meisten haben schlichtweg Angst.

Allerdings ist das kein Grund, sich zu schämen. Angst davor zu haben, aus einer sicheren Gruppe auszubrechen und sich als Einzelkämpfer gegen das System zu stellen, ist völlig normal. Wenig überraschend ging mir das früher genauso. Auch ich wollte nicht derjenige sein, der ständig schlechte Nachrichten überbringt, und auch ich hatte kein Interesse daran, meinen Job zu verlieren. Also habe ich mich (viel zu) oft zurückgehalten.

Das Problem dabei: All das führt zu einem Dilemma. Denn Sie wissen, dass es richtig wäre, etwas zu sagen, Dinge zu hinterfragen und vielleicht Verbesserungsvorschläge zu machen, aber die Angst hält Sie zurück. Das führt zu Unzufriedenheit, und dann passiert es vielleicht eines Tages, dass eine Kollegin genau das ausspricht, was Sie schon lange stört. Doch anstatt ihr beizuspringen, schweigen Sie – weil Sie nicht negativ auffallen wollen. Und vielleicht verlässt diese Kollegin nach ein paar Monaten das Unternehmen, man weiß nicht so genau, ob freiwillig oder nicht, aber noch Jahre später erinnern Sie sich gut an sie und denken:

"Eigentlich hätte ich damals den Mund aufmachen müssen."

Wie das immer so ist mit dem Wörtchen "eigentlich". Das bedeutet: Sie brauchen Mut. Genauso wie man bei einer heiklen Situation auf der Straße Zivilcourage braucht, braucht man Mut, um das Richtige zu tun. Natürlich kann es sein, dass Ihre Kritik Ihnen so negativ ausgelegt wird, dass Sie Ihren Job verlieren. Aber fragen Sie sich einmal selbst, ob Sie wirklich dauerhaft in einem Unternehmen arbeiten wollen, das Ihre Meinung so wenig wertschätzt und respektiert? Und was ist, wenn Sie tatsächlich nicht die einzige Person sind, die so denkt? Es ist unwahrscheinlich, dass ein Unternehmen ein ganzes Team entlassen würde, nur weil mehrere Mitarbeitende die Prozesse hinterfragen.

Wichtig ist auch, zu versuchen, die Perspektive des Managements zu verstehen. Ich würde nämlich unterstellen, dass viele Managerinnen und Manager ihren Job grundsätzlich gerne gut machen möchten und daher grundsätzlich ein offenes Ohr für Ihr Anliegen haben sollten, wenn es denn richtig formuliert wird. Deshalb sollten Sie signalisieren, dass es Ihnen um eine gemeinsame Verbesserung der Situation geht. Versuchen Sie, das Management nicht zu konfrontieren, sondern nach Lösungen zu suchen, die alle Beteiligten mittragen können. Denn wenn es Ihnen gelingt, sachlich und mit guten Argumenten zu überzeugen, erhöhen sich Ihre Chancen, ernst genommen zu werden.

Sachlichkeit ist dabei das oberste Gebot. Bereiten Sie sich gut vor, haben Sie Argumente und Fakten parat und überlegen Sie, wie Sie möglichen Einwänden begegnen können. Wenn Sie sachlich bleiben, werden Sie als professionell wahrgenommen, und das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Vorschläge ernst genommen werden. Besonders hilfreich kann es dabei sein, mit konkreten Zahlen zu argumentieren. Wenn Sie belegen können, wie viel Zeit oder Geld durch ineffiziente Prozesse verloren geht und wie Ihre Vorschläge diese verbessern könnten, wird es schwieriger, Ihre Argumente abzulehnen. Die implizite Annahme ist: Zahlen lügen nicht – und das ist für das Management oft ein entscheidendes Kriterium.

Wählen Sie außerdem auch den richtigen Zeitpunkt, um das Thema anzusprechen. Überraschende, ad-hoc vorgebrachte Kritik wird weniger erfolgreich sein als ein geplantes Gespräch. Vielleicht wäre eine Retrospektive der richtige Ort, um das Thema anzusprechen.

Letztlich kann ich Ihnen aber natürlich nicht garantieren, dass Ihre Bemühungen erfolgreich sein werden. Manchmal muss man auch kleine Schritte gehen und sich mit Kompromissen zufriedengeben. Wenn Sie jedoch nichts tun, wird sich – wie anfangs schon erwähnt – garantiert nichts ändern. Resignieren Sie also nicht. Und falls Sie wirklich an den Punkt kommen, wo Sie das Gefühl haben, dass es sich nicht mehr lohnt zu kämpfen, dann bleiben Ihnen immer noch zwei Optionen: Zum einen können Sie dann immer noch versuchen, sich mit der Situation zu arrangieren und das Beste daraus zu machen. Doch wenn auch das nicht klappt, dann bleibt Ihnen letztlich nur noch die Option, das Unternehmen zu verlassen und sich ein Umfeld zu suchen, das besser zu Ihnen passt.

Falls Sie jetzt denken

"Golo, ich hätte mir insgesamt konkretere Tipps gewünscht"

dann verstehe ich das. Aber leider gibt es keine allgemeingültigen Lösungen, weil so viel von den jeweiligen Umständen abhängt. Deshalb lautet meine Hauptbotschaft: Seien Sie mutig! Versuchen Sie, Missstände anzugehen, indem Sie sie offen und ehrlich ansprechen. Suchen Sie sich Gleichgesinnte und versuchen Sie, eine Lösung zu finden, die alle – einschließlich des Managements – mittragen können. Bleiben Sie sachlich und bereiten Sie sich vor. Tun Sie alles in Ihrer Macht Stehende, um einen besseren Prozess zu etablieren.

Das Einzige, was Sie nicht tun sollten, ist, sich nur zu beklagen. Denn das garantiert, dass sich nichts ändern wird. (who)