Was Softwareentwicklungsteams mit der Dunbar-Zahl und Primaten zu tun haben

Softwareentwicklungsteams sind soziale Systeme. Auch andere Primaten bilden solche sozialen Systeme. Was können wir von den anderen Primaten lernen?

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Primat auf einem Ast

(Bild: Jose HERNANDEZ Camera 51/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Eberhard Wolff
Inhaltsverzeichnis

Wie Menschen soziale Organisationen bilden, hat Auswirkungen auf unsere Branche: So gibt es die Frage, wie groß ein Team oder eine Firma zu sein hat. Als Orientierung dient oft die Dunbar-Zahl von 150. Sie soll angeben, mit welcher Gruppengröße Menschen typischerweise noch gut zurechtkommen. Leider ist diese Darstellung schlicht falsch. Dunbars wissenschaftliche Publikation sagt etwas völlig anderes.

Continuous Architecture – Eberhard Wolff

(Bild: 

Eberhard Wolff

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Eberhard Wolff ist Head of Architecture bei SWAGLab und arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als Architekt und Berater, oft an der Schnittstelle zwischen Business und Technologie. Er ist Autor zahlreicher Artikel und Bücher, u.a. zu Microservices und trägt regelmäßig als Sprecher auf internationalen Konferenzen vor. Sein technologischer Schwerpunkt sind moderne Architektur- und Entwicklungsansätze wie Cloud, Domain-driven Design und Microservices.

Er untersuchte nicht menschliche Primaten, umgangssprachlich fälschlicherweise oft als "Affen" bezeichnet. Das Verhältnis des Volumens ihres Neocortex zum Rest des Gehirns hängt mit der Gruppengröße zusammen, die diese Primaten bilden. Aus diesen Daten extrapoliert Dunbar eine Gruppengröße für Menschen von 147,8. Wie in der Wissenschaft üblich, hat der Wert eine Streuung. Mit 95 % Wahrscheinlichkeit liegt der Wert im Bereich von 100,2 bis 231,1. Ein anderes Paper ergibt völlig andere Bereiche für die Zahl mit 95-%-Konfidenzintervallen im Bereich 3,8 bis 292,0. Das Paper stellt noch einige andere Datenanalysen dar, die aber alle ein Konfidenzintervall von niedrigen einstelligen Werten bis hin zu einigen Hundert aufweisen. Wenn man dieses Paper betrachtet, hat die Zahl keinen praktischen Nutzen.

Aber Dunbar geht es auch nicht so sehr um die Zahl: In Gruppen nutzen Primaten gegenseitige Fellpflege (Grooming), um unter anderem Parasiten zu entfernen, aber auch um sozialen Zusammenhalt zu stärken. Dunbar stellt ein Verhältnis zwischen der Zeit her, die für Fellpflege notwendig ist, und der Größe der Gruppe der Primaten. Größere Gruppen benötigen mehr Fellpflege. Daraus, so Dunbar, würde sich für Menschen ein Zeitaufwand ergeben, der nicht darstellbar ist. Laut Dunbar haben Menschen daher Sprache entwickelt, um effizienter sozialen Zusammenhalt herzustellen. Sprache ist also nicht, wie andere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen behaupten, zur Koordinierung beim Jagen oder Herstellen von Werkzeugen entstanden, sondern zur Pflege sozialer Beziehungen.

Mit anderen Worten: Dunbars zentrale These ist nicht die Größe der Gruppe, sondern dass menschliche Sprache sich zum Stärken sozialer Beziehungen entwickelt hat.

Die Dunbar-Zahl von 150 ist nur die extrapolierte maximale Größe von Menschengruppen, die Sprache als einen der gemeinsamen Fellpflege vergleichbaren Prozess nutzt. Er spricht von Clan / Village. Daneben nennt er noch andere Gruppen: Bands (Banden) mit 30 bis 50 Personen und Tribes (Stämme) mit 1000 bis 2000 Personen.

Dementsprechend diskutiert Dunbars Paper zahlreiche Beispiele für menschliche Gruppen sehr unterschiedlicher Größe. Gruppen mit einer Größe deutlich anders 150 gehören dann eben zu einer anderen Kategorie, so Dunbar. Seine These ist also definitiv nicht die Größe der Gruppen, sondern die Mechanismen der Gruppe, um sich selbst zu erhalten – und das schreibt er auch selbst so.

Besonders interessant: Dunbar sieht die Gruppen im Militär als eine Bestätigung seiner These, denn es soll dort auch Gruppen einer Größe von 100 bis 200 Menschen geben. Aber natürlich gibt es im Militär auch wesentlich kleinere Gruppen wie einen Trupp (2 bis 8 Soldaten bei der Bundeswehr) oder größere Gruppen wie ein Bataillon (300 bis 1200 Soldaten), die er dann nicht weiter betrachtet.

Zu dem Paper gibt es umfangreiche Kritik anderer Wissenschaftler, sodass praktisch jeder Teil des Papers umstritten ist. Beispielsweise gibt es bezüglich der Gruppengröße Hinweise auf Fission-/Fusion-Verhalten unter Primaten. Das sind Gruppen, zu denen Individuen hinzustoßen und sich dann wieder entfernen. Individuen können etwa an einem Ort gemeinsam schlafen, aber den Tag getrennt verbringen. Solche Gruppen sind also nur temporär. Spezies mit solchem Verhalten benötigen aber nur wenig Zeit für die gemeinsame Fellpflege und sind teilweise deutlich größer. Offensichtlich können Primaten also auch ohne komplexe menschliche Sprache große Gruppen bilden.

Für die Organisation von menschlichen Teams kann man also aus der Dunbar-Zahl nichts lernen. Dunbar selbst sagt ja, dass es menschliche Gruppen praktisch beliebiger Größe geben kann. Man muss für diese Aussage nicht einmal auf die umfangreiche Kritik zurückgreifen.

In den Kritiken finden sich noch weitere interessante Punkte. So ist es beispielsweise überhaupt nicht klar, warum die Anzahl Menschen, die ein Mensch in irgendeiner Form kennt, eine Gruppengröße beeinflusst. Wenn wir also nur eine bestimmte Anzahl Menschen kennen und mit ihnen regelmäßig sprechen, dann kann eine Gruppe dennoch deutlich größer sein. Es reicht ja, wenn man gemeinsam koordiniert handelt. Dank Sprache können Menschen sich auch in großen Dimensionen bis hin zu Nationen oder darüber hinaus koordinieren. Dass sich Menschen unterschiedlich gut kennen und vertrauen, sollte eigentlich jedem klar sein. Im Projektalltag nutzt man das auch aus. Statt einer Person eine Information direkt zu geben, bittet man eine dritte Person darum, weil das Vertrauensverhältnis zwischen diesen beiden Personen besser ist.

Für mich ist die Fehlinterpretation der Dunbar-Zahl ein Hinweis auf ein grundlegendes Problem: Komplexes menschliches und soziales Verhalten wird simplifiziert. Am Ende steht eine Zahl mit der idealen Größe einer Gruppe. Das ist eine einfache Regel, an die man sich halten kann.

Eigentlich sollte die Intuition jedem etwas anderes sagen. Denn jeder weiß durch das eigene Leben, dass Menschen in unterschiedlichen Gruppen agieren können – im privaten und im beruflichen Kontext: die Firma, der Verein, die Nachbarschaft, die Freunde, die Familie. Die Gruppen sind unterschiedlich groß. Für besonders große Gruppen gibt es Hierarchien wie im Militär, aber auch in Unternehmen mit Team, Abteilungen, Standorten usw.

Diese Gruppen existieren oft nicht lange. Beispielsweise bei einem Training oder beim ersten Consulting-Termin müssen Trainer und Beraterinnen mit einer Gruppe zusammenarbeiten, die sie nie zuvor gesehen haben – und das funktioniert. Das ist sicher eine andere Gruppe, mit einer anderen Art von Beziehung als die eigene Familie, aber eine solche Gruppe hat auch andere Ziele.

Nun kann man argumentieren, dass unter anderem das Vertrauen erst mit der Zeit wächst. Aber auch Vertrauen kann schnell gebildet werden: Wird ein Patient ins Krankenhaus eingeliefert, wird er der behandelnden Ärzt:in im Extremfall sogar sein Leben anvertrauen, ohne die Person vorher jemals gesehen zu haben.

Sicher kann man Dunbars Forschung als Inspiration nutzen, um über Mechanismen für die Stärkung des Zusammenhalts von Gruppen nachzudenken. Dunbars These ist, dass Sprache nur entstanden ist, um sozialen Zusammenhalt zu stärken, und er präsentiert dazu Statistiken, wie viel Zeit mit dem Gespräch über soziale Beziehung und Gossip (Tratsch) verbracht wird. Maßnahmen zum Stärken des Zusammenhalts, beispielsweise durch ungezwungene Gespräche, können sinnvoll sein. Wo gibt es für ein Team ein solches Forum? Das müssen nicht erzwungene Team-Bondings sein, sondern ein regelmäßiges gemeinsames Mittagessen kann eine solche Funktion gut ausfüllen.

Die Dunbar-Zahl sagt nichts über die mögliche Größe von Teams oder Firmen aus. Sie können eine beliebige Größe haben und unterschiedlich strukturiert sein. Die Fehlinterpretation der Zahl deutet darauf hin, dass unsere Branche für Vereinfachungen anfällig ist, die der Intuition widersprechen. Teams benötigen einen Mechanismus, um einen sozialen Zusammenhalt herzustellen.

(rme)