Web 2.0-Tools als Heilsbringer für verkrustete Firmenstrukturen?

Das Enterprise 2.0 kämpft mit alten Firmenstrukturen, meint Professor Andrew Mc Afee von der Harvard Business School in einem Beitrag der Computer Zeitung und glaubt an das Web 2.0 als Heilmittel.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Bernd Oestereich

In der letzten Ausgabe der Computer Zeitung las ich gerade "Das Enterprise 2.0 kämpft mit alten Firmenstrukturen". Gemeint ist damit, das die Verwendung von "Web 2.0-Tools" in Firmen (intern und mit Partnern) nicht so gut funktioniert, wie es nach Meinung des im Artikel zitierten Professors Andrew Mc Afee von der Harvard Business School wohl sein sollte.

Natürlich wird nicht definiert, was "Web 2.0-Tools" im Kontext von "Enterprise 2.0" sind. Ich spekuliere darauf, dass damit die Verwendung vor allem von Wikis, Blogs und virtuellen Netzwerken gemeint ist. Aus dem Kontext des Artikels ("Warum deutsche Konsumenten Videos auf Internet-Seiten stellen") lässt sich folgern, dass ggfs. auch Podcasts, Audio- und Video-Blogs, Social Bookmarking u.ä. gemeint sein könnten.

Die "Kultur des Gedanken- und Ideenaustausches" scheitere jedenfalls an den passiven Mitarbeitern und an patriarchalischen Organisationsstrukturen.

Es mag ja sein, dass virtuelle Netzwerke wie Xing oder LinkedIn im Kontext von Unternehmen sinnvolle und kommunikationsfördernde Werkzeuge sind. Auch ist gegen Blogs und Wikis gar nichts einzuwenden. Die große Frage ist aber: wofür? Welche Ziele sollen erreicht werden? Wikis und Blogs sind ja kein Selbstzweck. In dem Artikel wird der Kampf gegen Bürokratie und Hierarchie als Ziel suggeriert und behauptet, "E-Mails sind ein völlig veraltetes Kommunikationsmittel".

Also wenn es um Kommunikation geht, dann ist die direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch noch immer äußerst effektiv – aber natürlich schon Jahrtausende alt. Und bei räumlicher Distanz sind Video- und Audio-Telefonie recht erfolgreiche und zugleich effiziente und effektive Mittel. Die Menschen sind dort nämlich noch spürbar und relativ wenig anonym. Die Kommunikation erfolgt synchron, ist bidirektional und hat noch einen nonverbalen Kontext.

Wikis hingegen sind Informationsgräber, bei denen kaum erkennbar ist, von wem welche Informationen stammen, ob sie noch relevant sind oder es jemals waren. Die Entgegnung "das steht doch im Wiki" hilft dem neuen Kollegen auch nicht weiter, wenn er der Informationsflut wiederum nur mit Insiderwissen erfolgreich begegnen könnte – die Wissensmonopole bleiben in der Praxis bestehen, sie funktionieren nur etwas anders. Auch Blogs, Podcasts, Videos etc. sind Einbahnstraßen, asynchron, verzögert und erlauben wiederum nur indirektes Feedback bzw. langsame und verzögerte Diskussionen. In einem persönlichen Gespräch hätte ich Ihnen meine Meinung zu diesem Thema in 2 bis 4 Minuten kurz erläutert. An diesem Blogeintrag sitze ich nun schon ein Vielfaches der Zeit.

Bei oose arbeiten wir seit über 6 Jahren firmenintern mit Wikis, blogähnlichen Wikiseitenabos, Videos etc. – diese Werkzeuge liefern uns zwar einen Zusatznutzen, unsere Werte und Kultur entspringen dort aber nicht. Abwesende Mitarbeiter können sich von wichtigen Besprechungen Videos angucken oder Foto-Protokolle im Wiki nachlesen. Und fachliche Diskussionen über blogähnliche Medien, Foren und Mailing-Listen ermöglichen es, wichtigere Aufgaben vorrangig zu erledigen, ohne grundsätzlich aus einer parallel laufenden Diskussion aussteigen zu müssen. Jeder oose-Mitarbeiter kann auch nach eigenem freiem Ermessen von zu Hause arbeiten – doch die tatsächliche Situation ist, dass Mitarbeiter sich immer wieder dafür entscheiden und stark machen, doch persönlich ins Büro zu kommen. Es ist eben doch etwas anderes, wenn man die vielen kleinen Gespräche am Nachbartisch und auf dem Flur einfach den ganzen Tag mitbekommt und sich dann wahlweise einmischt. Es sind die gleichen Gründe, warum agile Projektteams lieber in einem gemeinsamen großen Raum sitzen statt in Einzelzellen.

Wenn also das "Enterprise 2.0" mit "alten Firmenstrukturen" kämpft, dann ist das ein Symptom, dass wohl kaum mit "Web 2.0 Tools" behoben werden kann. Die Ursachen liegen möglicherweise tatsächlich in "patriarchalischen Strukturen". Die Überzeugung, mit irgendwelchem technischen Schnickschnack eine relevante und nachhaltige Organisationsentwicklung vollziehen zu können oder Werte und Kulturen verändern zu können, finde ich immer noch naiv. Wikis, Blogs und all den anderen jungen Werkzeugen solche Wunderfähigkeiten zuzuschreiben, finde ich technokratisch und selbst Ausdruck veralteter Denk- und Führungsmuster. ()