Zertifizierungswahnsinn?

Noch mehr zum Thema Zertifizierungen.

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Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Bernd Oestereich

Nachdem Jutta gerade etwas zum Zertifizierungwahnsinn geschrieben hat, auch von mir etwas zum Thema.

Die Unterscheidung zwischen den Fähigkeiten einer Person einerseits und ihren Kenntnissen (Wissen) andererseits, die durch Zertifizierungen bewertet werden, halte ich für grundlegend und wichtig. Dennoch kann ich damit zu keinem pauschalen Urteil über den Sinn oder Unsinn von Zertifizierungen gelangen.

Reine Wissensprüfungen haben in vielen Bereichen eine Berechtigung, vor allem um einen Mindeststandard nachzuweisen. Damit wird noch nicht gesagt, dass jemand mit dem Wissen etwas anfangen kann, aber es wird der Person bestätigt, eine gute Basis dafür zu haben. Wissensprüfungen halte ich für sinnvoll, wenn beispielsweise grundlegende Sprachkenntnisse benötigt werden, sei es Englisch oder UML. In der täglichen Zusammenarbeit ist es wichtig, dass die Kommunikation zwischen den Beteiligten gut funktioniert. Eine gemeinsame Sprache hat hier einen hohen Stellenwert. Neben Sprachkenntnissen kann auch das Wissen über bestimmte Werte, Begriffe, Verhaltensweisen hilfreich sind. Wissensprüfungen haben tendenziell viele und einfache Kriterien bzw. Prüfungsfragen.

Wenn jemand bspw. sehr erfahren in iterativem Projektmanagement ist, in ein Scrum-Projekt kommt und die spezielle Terminologie (z.B. "Sprint Backlog") nicht kennt, tut er sich unnötig schwer, obwohl er die Konzepte möglicherweise voll verinnerlicht hat.

Bei dieser Art von Zertifizierung, der Überprüfung von Wissen und Kenntnissen, finde ich viel entscheidender, welche Wertigkeit, Qualität und Belastbarkeit das Zertifikat hat. Wird wirklich etwas individuell abgeprüft? Wenn die Antworten trivial sind, alle Standardfragen und -antworten frei verfügbar sind und nur auswendig gelernt werden müssen, wenn nur wenige exemplarische Fragen gestellt werden, wenn überhaupt keine personenspezifische Prüfung stattfindet oder man praktisch kaum durchfallen kann, hat das Zertifikat keine Aussagekraft.

Insofern hat bspw. das Zertifikat zum Scrum-Master keinen besonderen Wert. Es reicht normalerweise die Teilnahme an einem 1- bis 2-tägigen Kurs. Der ist ok, aber das Ergebnis ist nicht wirklich ein Zertifikat, sondern eigentlich eine Teilnahmebescheinigung bzw. einen Bescheinigung, dass man schon mal systematisch etwas zum Thema gehört hat.

Ein Zertifkat ist eine Möglichkeit, bestimmte Kenntnisse oder Fähigkeiten nachzuweisen. Es gibt aber auch viele andere Möglichkeiten, und insofern können Nichtzertifizierte nicht abqualifiziert werden. Ausnahmen sind Massenzertifikate und Standards, beispielsweise der Führerschein, der sowohl Wissens- als auch Erfahrungsnachweise erfordert.

UML-Zertifikate sind vorwiegend ein Wissensnachweis. Auch wer kein Zertifikat hat, kann in der Praxis trotzdem ein guter UML-Anwender sein. Wahrscheinlich ist es sinnvoll, Anwender und Experten zu unterscheiden. Wenn jemand ein UML-Training gibt dürfen die Kunden erwarten, dass er auch ein entsprechendes UML-Zertifikat hat. Wer sich nicht nur als Experte ausgibt, sondern wirklich einer ist, wird kein Problem haben, das Zertifikat zu bekommen. Hier macht ein fehlendes Zertifikat eher skeptisch.

Manchmal hängt es auch von speziellen Faktoren ab. Wenn ein Kunde beispielsweise aus Gründen der Vereinheitlichung sicherstellen möchte, dass alle seine Projektdienstleister nach einem bestimmten Projektmanagementstandard arbeiten, dann fällt es ihm viel leichter einen Dienstleister auszuwählen, der genau für diesen Standard ein Zertifikat besitzt.

Außerdem dürfen auch die realen Erfahrungen mit bestimmten Zertifikaten bzw. Zertifizierten nicht unterschätzt werden. Wenn ich regelmäßig die Erfahrung mache, dass Personen mit bestimmten Zertifikaten tendenziell besser oder erfolgreicher arbeiten, dann gewinnt diees Zertifikat für mich zunehmend an Bedeutung. Das gleiche gilt umgekehrt. Das Problem ist, dass hierbei keine neutrale oder objektive Beurteilung möglich ist.

Ein weiteres wichtiges Merkmal für mich ist die Organisationsstruktur des Zertifizierers. Es werden normalerweise drei Instanzen benötigt:

  1. jemand, der die Prüfungen und Kriterien ausarbeitet und festlegt,
  2. jemand, der die Prüfungen durchführt und Zertifikate ausstellt und
  3. jemand, der die Prüfer akkreditiert.

Wichtig ist die Unabhängigkeit der drei Instanzen und die Qualifikation genau für diese Rolle. Es gibt leider einige selbsternannte Zertifizierer. Richtig schlimm ist es, wenn das Zertifikat weniger dazu dient, einen Qualifikationsstandard zu sichern, sondern primär dem Geldverdienen. Bitte nicht missverstehen: ich bin ja selbst Unternehmer und unbedingt dafür, auf legale Weise Geld verdienen. Damit ein Zertifikat aber ein allgemeiner Standard und von allgemeinem Wert sein kann, muss der Zertifizierer eine entsprechende allgemeine Anerkennung besitzen. Entweder ist es ein neutraler Standard und alle wichtigen Marktteilnehmer unterstützen ihn (ein Monopolist hat ähnliche Möglichkeiten), dann hat das Zertifikat Wert, oder aber verschiedene Marktteilnehmer geben ihre eigenen "Standards" heraus. Aus diesem Grund hat oose bspw. keine eigenen Zertifikate, sondern akkredidiert sich als Anbieter für bestehende Standards.

Zertifizierungsstandard wie OMG UML/OCUP, V-Modell XT, PMI, ISTQB Certified Tester sind unabhängige Standards, Scrum meines Erachtens nicht.

PMI ist ein Standard der nicht nur Wissen, sondern auch Erfahrung und Fähigkeiten sicherstellt. So müssen Praxiserfahrungen und -zeiten nachgewiesen werden und die Zertifikate sind auch regelmäßig zu erneuern. ()