Über (sozialen und psychologischen) Druck

Ganz agil zum Burn-out? Die Verantwortung und Herausforderungen von Führungskräften in selbstorganisierten Projektstrukturen.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Bernd Oestereich

Die Zeiten, in denen Unternehmen und Projekte in hierarchischen Organisationsstrukturen und mit autoritärer Führung ihre Mitarbeiter unter Druck setzten, um aus ihnen mehr Leistung herauszuholen, sind in den meisten Fällen seit 10 bis 25 Jahren vorbei. Dennoch scheint es so, als wäre der Druck, also die Belastung der Menschen, trotz dieses Wandels im Führungs- und Organisationstil gestiegen.

Es gibt noch die Führungssaurier, die ihren zweifelnden und kritischen Mitarbeitern bei unrealistischen Zielen die plumpe Antwort geben, "natürlich weiß ich, dass der Termin sehr ehrgeizig ist, aber deswegen habe ich ja gerade Sie ausgewählt!". Weitaus verbreiteter ist die Entpersonalisierung der Ziele in dem Stil "Ja, aber wenn wir bis zum März nicht fertig sind, verpassen wir das Markteinführungsfenster (z.B. eine wichtige Messe, das Jahresendgeschäft u.ä.) und das würde unser Unternehmen ein ganzes Jahr zurückwerfen. Die Konkurrenz schläft ja auch nicht".

Dieser "Druck von oben" ist aber vergleichsweise harmlos gegenüber den subtilen Möglichkeiten der Selbstausbeutung. Autoritäre Führung ist nicht nur aus der Mode gekommen, es wurden ganz erhebliche Gestaltungs- und Freiräume für geschaffen, die vor allem auf die Selbstorganisation der Beteiligten setzen. Dies ist beispielsweise ein markanter Unterschied zwischen den schwergewichtigen und überstrukturierten IT-Vorgehensmodellen der 1980er und 1990er Jahre und den seit Ende der 1990er Jahre populärer gewordenen agilen Verfahren.

Ein Phänomen, das ich in diesem Zusammenhang beobachte, ist die Vernachlässigung von Führung.

In diesem Fall wird die autoritäre Führung, also das Erteilen oder Befehlen von Arbeitsanweisungen, vermieden und durch sehr weitgehende Selbstorganisation ersetzt. Die Beteiligten bekommen mehr Freiheiten, implizit aber auch mehr Verantwortung. Diese Verantwortung wird in vielen Fällen nicht mehr explizit vergeben, aber die Beteiligten spüren sie dennoch. Das selbstorganisierte Team oder der eigenverantwortliche Mensch kreiert sich (meistens unbewusst) seinen eigenen psychologischen und sozialen Druck.

Das beginnt damit, dass Projektmitarbeiter den Aufwand und die Termine für ihre Arbeitsaufträge selbst schätzen und sich damit implizit selbst unter den Druck setzen, ihre selbstgesetzten "Ziele" (die aber eigentlich nur Prognosen waren) auch einzuhalten. Das setzt sich fort in der Zusammenarbeit, weil es Abhängigkeiten und Zulieferleistungen zwischen den Beteiligten gibt, d.h. es gibt Erwartungen von Kollegen, wann und wie welche Arbeitsergebnisse vorliegen sollen. Und sei es nur dadurch, dass jemand nur glaubt, dass sein Kollege einen bestimmten Termin erwartet.

Der mächtigste Druck ist der Gruppendruck. Der nächstmächtige Druck sind die selbstgesteckten Erwartungen und Ziele. Die vielen Freiräume sind da ein gefährliches Terrain. Ein guter cooler Softwareentwickler entwickelt ja nicht nur zuverlässig geniale Software, er setzt sich nebenbei auch stets mit neuen technologischen Entwicklungen auseinander, erwirbt Zertifizierungen, Awards/Black-Belts und andere Statussymbole, liest viele Bücher, besucht Konferenzen, sammelt eifrig Wissen im Internet, engagiert sich möglicherweise in Open-Source-Projekten, vernetzt sich in Communities oder Gremien, schreibt mal einen Artikel, reicht mal einen Konferenzvortrag ein, wird in anderer Weise zum Wissensproduzenten im Web 2.0 und übernimmt Verantwortung für ehrenvolle (d.h. unbezahlte Überstunden) Zusatzaufgaben vom Abendvortrag für Kollegen bis zur Organisation des Betriebsausfluges. 50 Stunden/Woche sind da schnell verbraucht (Ach? Sie sind so jemand? Da hätte ich eine Alternative). Zusätzlich werden private Interessen (Musik? Marathonlauf? Podcasting?) beinahe professionell gemanagt. Ach ja und dann sind da immer noch die Erwartungen der privaten sozialen Umgebung, von beispielsweise, was war da?, achja, die Familie und Freunde.

Unsere Möglichkeiten und Freiheiten sind so groß, global und werden mit dem Web 2.0 gerade noch größer. Wir können uns hochgradig selbst verwirklichen, unsere Kreativität ausleben und dürfen selbstbestimmt dies alles zusammenbringen und gestalten. Und still und heimlich bewundern wir die Kollegen, die das alles so toll schaffen oder vergleichen uns (mein/sein Haus, Familie, Open-Source-Projekt, Podcast, Buchpublikation, Projekterfolg, Auftrags-Akquisition etc.).

Manchmal kommen auch Zweifel. Die Kollegin ist seit Monaten permanent erkältet, ein anderer Kollege sieht immer übermüdet aus, die Haut ist ungesund. Die Anglizismen Burn-out-Syndrom und Work-Live-Balance stehen uns seitdem auch bereit. Und die ganze Simplify-Your-Life/Work/etc.-Literatur ist seit Anfang der 2000er Jahre zunehmend Pflichtlektüre des modernen Menschen.

Ich hatte die Komplementärität von Freiheit und Verantwortung im Zusammenhang mit agilen Managementverfahren schon früher in diesem Blog thematisiert und lande dort auch heute wieder.

Selbstorganisation in Projekten und Unternehmen, die einseitig auf die Gewährung von Freiräumen abzielt, ist verantwortungslos!

In einem selbstbestimmten Arbeitskontext muss jeder einzelne viel stärker Verantwortung übernehmen. Autoritäre Führungssaurier sind selten geworden – aber haben die Beteiligten und Betroffenen auch die Kehrseite der Medaille gelernt und eingeübt? Hier ist es Aufgabe der Verantwortlichen und Führungskräfte (die es auch in flachen Hierarchien immer noch gibt), die Mitarbeiter hierin zu bestärken, sie zu befähigen, diese Verantwortung auch annehmen und ausüben zu können. Dazu gehört nicht nur, Mitarbeiter zu ermuntern "Nein" zu sagen und Grenzen setzen zu lassen, sondern ihnen auch zu helfen, ihre vielen widersprüchlichen oder zu anspruchsvollen Ziele zu klären, zu strukturieren, zu priorisieren etc. Personalentwicklung geht hier grenzenlos in Persönlichkeitsentwicklung über.

Meiner Erfahrung nach ist mit dem Wegfall von plumper Führungsautorität der Bedarf und der Ruf nach Führung größer statt kleiner geworden. Gesamtgesellschaftlich spiegelt sich dies in der zurückkehrenden Popularität klassischer Werte wider (Treue, Verlässlichkeit, Fürsorge etc.). Für Projektleiter/innen bedeutet dies, dass selbstorganisierte Teams keine Arbeitsvereinfachung darstellen, sondern zusätzliche Herausforderungen. Der Glaube, weil wir jetzt alle agil und damit selbstorganisierter vorgehen, sei das Thema "(sozialer und psychologischer) Druck" ein Relikt aus einer autoritären Managementära, ist ebenso so irrig wie die Überzeugung, in größeren Projekten wären alle Gleiche unter Gleichen – aber das ist ein anderes Thema. ()