Wege aus der Ausweglosigkeit

Ajax ohne Lösungsmittel

Wissenschaftliche Arbeit
von Herbert Braun
vorgelegt im Wintersemester 1918/19
an der Universität Zürich

1 Einleitung

1.1 Zum Thema

1.1.1 Ausgangspunkt Ausweglosigkeit

Der Text dieser pseudowissenschaftlichen Arbeit dient hier ausschließlich als Demonstrationsobjekt für die mittels Ajax realisierte Fußnotenfunktion, wie sie in c't 05/2006 besprochen ist. Dennoch bittet der Autor um Beachtung seiner Urheberrechte. Sollte in den c't-Lesern trotz des krausen Sprachstils und des entlegenen Themas das brennende Verlangen nach dem Originaltext aufgekommen sein, so können sie sich hier diesbezüglich weiterbilden.

In dieser Zeit werden auch die ersten Texte Balls publiziert. Zwischen April und November 1905 druckt die Zeitschrift Der Pfälzerwald einige (erst vor wenigen Jahren gefundene23) Gedichte. Diese neben Nero ältesten erhaltenen Dichtungen Balls sind im wesentlichen romantisch-epigonale Naturlyrik, wie sie sich zu jener Zeit der Popularität erfreute24. Die Titel Abendblick vom Hochstein, Nachtidyll, Waldgreis und Sonnenuntergang sprechen für sich. Auch in anderer Hinsicht zollen die Texte ihrer Zeit Tribut, so etwa in der teilweise sehr konventionellen, mythologisch geprägten Metaphorik:

Gern von meinem Fenster schau ich
Träumend in die schönen Nächte,
Wenn Selenes Silbernadeln
Emsig stickend, leis erklingen5

Gelegentlich jedoch findet sich eine auf den Expressionismus vorausweisende Bewegtheit und eine für Ball typische Entlegenheit in Wortschatz und Metaphorik:

Wolken ungeheuer, tauchen auf,
Perlmutterschuppig. Sie glotzen
Den Wächter dumm an und schleichen
Sich heimtückisch an ihm vorbei26.

Das dumm Glotzen als Gegenbegriff zur Gottes-Ruh des Mondes in der ersten Strophe weckt ebenso wie das ungeheuer und das heimtückische Vorbeischleichen expressionistische Reminiszenzen. Charakteristisch für den Sprachgebrauch sind Worte wie perlmutterschuppig: entlegen, schwer auflösbar und kaum mit dem Kontext verbindbar. Ähnlich auch beim Abendblick vom Hochstein (a.a.O. S.3f), wo es als Schluß heißt: Und durch die weichen Dunkel / Trippelt Prinz Schlafezwerg. Nur der provokatorische Gestus unterscheidet dieses Bild vom Syphilliszwerg aus Der Henker, das sprachliche Verfahren ist beibehalten.

1.1.2 Hugo Ball und der Expressionismus

Über der Etablierung des Dadaismus in der Rezeption als eigenständige Kunstrichtung (statt wie zuvor als dekadentes Anhängsel des Expressionismus oder chaotischer Vorläufer des Surrealismus) trat naturgemäß dessen anfangs enge Verbindung zum Expressionismus in den Hintergrund, so daß es heute fast überraschend anmutet, in dem Dadaisten Ball ein prominentes Mitglied der expressionistischen Bewegung zu erkennen – denn auch in der Ball-Rezeption selbst haben sich die wenigen Monate der Identifikation mit dem Dadaismus so unverhältnismäßig in den Vordergrund gedrängt, daß Balls frühere, keineswegs unwesentliche Beiträge im Rahmen des Expressionismus in Vergessenheit geraten sind.

1.1.2.1 Drama und Theater

1910-1914 war für mich alles Theater: das Leben, die Menschen, die Liebe, die Moral. Das Theater bedeutete mir: die unfaßbare Freiheit. (FadZ27 S.13; undatiert)

Neben dem großen Eindruck, den Nietzsche auf ihn gemacht hat, war es vor allem die Begeisterung für das Theater, die Ball aus der ihm vorbestimmten bürgerlichen Lebensbahn geworfen hat. Bereits als junger Lehrling beginnt er seine dichterische Laufbahn mit dramatischen Versuchen, von denen der um 1904 vollendete Nero der bedeutendste ist. Die bald darauf begonnene Nase des Michelangelo sollte nach jahrelangen Überarbeitungen seine erste Publikation werden, nachdem Ball zuvor sein Literatur- und Philosophiestudium kurz vor dessen Ende abgebrochen und sich damit gegen den Widerstand seiner Familie die letzte Möglichkeit einer bürgerlichen Karriere verstellt hat. Der Henker von Brescia sollte folgen, doch zu dieser Zeit hatte sich der junge Ball längst über seine Theaterarbeit in der Bohème etabliert.

Theoretisch war Ball beeinflußt von Nietzsche, Kandinsky, Wedekind und dem Expressionismus. Die Grundlage seiner Bühnenarbeit, wie sie am deutlichsten aus den Aufsätzen Das Münchener Künstlertheater, Wedekind als Schauspieler und Das Psychologietheater, publiziert in Phoebus Mai/Juni 1914, hervorgehen, war die Ansicht, der Mensch, die unterdrückte Individualität, sei von dem repressiven Druck einer überkommenen, verfallenden Kultur zu befreien; diese Befreiung, die Ball im Gegensatz zu Kandinsky auch politisch dachte, gehe wesentlich von der Kunst aus. Der kulturelle Wandel vollziehe sich in zwei Stufen. Die erste, das Psychologietheater, helfe durch die Aufschlüsselung und Analyse des menschlichen Verhaltens die alte Kultur zu zerstören. Das psychologische Herumschnüffeln in der menschlichen Seele führt jedoch zu einer Kunst der Verstellung der eigenen Person, wie sie nur zu Zeiten der Repression Sinn macht.

Die Ideen Balls zur Reformierung des Theaters sind nicht einfach zu bewerten, weil sie in seinen dramatischen Arbeiten nur keimhaft ausgeprägt werden konnten und weitgehend Theorie blieben. Nur dreimal übergab man ihm die Regie (einmal in einem nichtssagenden Lustspiel von Emmerich Földes, zweimal in Sonderaufführungen von Hauptmann und Blei, die beifällig aufgenommen wurden), und Balls eigene, fast unbeachtet gebliebene Stücke lassen den reformerischen Impetus ebenfalls kaum ahnen. Nero und Die Nase des Michelangelo reichen in die vorexpressionistische Zeit Balls zurück, und auch der frühestens 1911 begonnene Henker von Brescia, nur teilweise überliefert, bleibt noch weit hinter den revolutionären Plänen seines Autors zurück.

1.1.2.2 Die Bohème

Balls Kontakte mit dem Künstlermilieu, wie es sich insbesondere in München und Berlin fand, und damit auch seine Verbindung zu den führenden modernen Künstlern in Deutschland und mit dem Expressionismus datieren nicht auf Balls Umzug von der pfälzischen Provinz in die Großstadt (also Herbst 1906) – dort hatte Ball, konzentriert auf sein Studium, offenbar kaum Kontakte zu diesen Kreisen –, sondern erst auf die Zeit, als Ball beschlossen hatte, sein Studium an den Nagel zu hängen und die Theaterlaufbahn einzuschlagen. Von Herbst 1910 bis Mai 1911 läßt er sich an der renommierten Schule von Max Reinhardt in Berlin zum Regisseur ausbilden. Auf die neue Umgebung reagiert er erst einmal mit Befremden:

Also die Schule ist eine Art Indifferenzpunkt zwischen Kindergarten und Tollhaus. Hier sind Menschen, die dich in diesem Augenblick mit ihren Augen erstechen möchten vor Haß und Verachtung, um dir im nächsten Augenblick mit ausgebreiteten Armen einen Kuß zu geben. Es sind Wesen von einer Launenhaftigkeit, daß das raffinierteste Aprilwetter sie darum beneiden könnte. Menschen, mit einem Dünkel behaftet, daß sie unterm Druck der Geniekrone förmlich mit einem Schmerzengesicht herumlaufen müssen (...)35 Darum fühlte ich mich anfangs gar nicht wohl. (An Maria Hildebrand-Ball; Briefe S.17, von der Herausgeberin auf Januar 1911 datiert)

Dieses provinzielle Befremden legte sich jedoch allmählich, und im Lauf der Jahre 1911/12 schloß sich Ball selbst den Lebensgewohnheiten der Bohème an. Im Herbst 1911 erscheint sein erstes Buch, das Drama Die Nase des Michelangelo, an dem Ball seit 1908 gearbeitet hatte. In Plauen, wo er für diese Spielzeit als Dramaturg mit Spielverpflichtung arbeitet, erprobt er noch vorsichtig die Auseinandersetzung mit jener bürgerlichen Kultur, die er theoretisch in seinen Nietzsche-Studien längst überwunden hatte; dazu hat er weniger auf seinem eigenen Tätigkeitsfeld Gelegenheit, sondern in den von ihm organisierten Matineen. Auf diesen Veranstaltungen, deren Themen vergleichsweise unbedenklich scheinen (so berichtet Ball in seinem Brief an Maria Hildebrand-Ball vom 5.11.1911 – Briefe S.17f – von einer Hans-Sachs-Matinee), erlebt Ball doch zum ersten Mal die Ablehnung durch Autoritäten (die Kirche fühlte sich durch die Bezeichnung Sonntagsfeier insinuiert und setzte ein Verbot durch), die Auseinandersetzung mit der Publizistik (Ball wollte einen Artikel dazu in der örtlichen Presse lancieren) und nicht zuletzt die Erfahrung, als eigenständig arbeitender Organisator und Rezitator den Reaktionen des Publikums unmittelbar ausgesetzt zu sein.

1.1.2.3 Die Radikalisierung des Grotesk-Expressionismus

Widmung für Chopin

Drei Meere tanzen hochgeschürzt ans Land,
Des Droschkenkutschers Hut durchbohren Mondesstrahlen.
Als Kehrichtwalze holpert der Verstand,
Wir glänzen durch die Nacht gleich singenden Aalen.

Giraffenhals ragt schräg zum Nordlichthimmel.
Die Mondesratte knüpft ihm bleichen Kragen.
Am Tropenkoller würgt ein Polizistenlümmel.
Bald werden wir ein neues Land erfragen.

Aus unsrem Ohr lustwandeln Eiterströme.
Das Auge rankt sich wüst um das Monokel.
An einem Drahtseil leckt ein schlichter Böhme.
Ein Schwein steht segnend auf dem Marmorsockel.

Zehntausendfarbenschnee. Cocytus. Kinotempel.
Ein Mann greift weibernd nach dem Hosensack.
Auf Eselsrücken brennen handgroß Feuerstempel.
Und Hähne machen Kopfsprung in den Chapeau claque37.

Dieses Gedicht zeigt, wie überraschend fließend die Grenzen zwischen Expressionismus und Dadaismus sind und erklärt, warum eine Beschäftigung mit Balls expressionistischer Phase auch in diesem Zusammenhang angezeigt ist. Es macht wenig Sinn, den Dadaismus auf einen Schlag im Frühjahr 1916 beginnen zu lassen, ohne Vorläufer und Vorstufen38, ebenso wie es wenig Sinn macht, Balls dadaistisches Werk auf die Lautgedichte zu beschränken. Der Dadaismus war auch die Konsequenz einer sich stetig radikalisierenden Bohème, und wenn wir diese Texte der Übergangsphase untersuchen, gilt es, sie auf ihre expressionistischen und dadaistischen Tendenzen zu filtern.

Bei dem zur Untersuchung in Frage kommenden Gedichtmaterial handelt es sich um die Texte Frühlingstänzerin, Der Gott des Morgens, Der Henker, Die weiße Qualle, Die Katze, Buddha und der Knabe, Der Verzückte, Das Insekt, Versuchung des Heiligen Antonius, Die Sonne und Cimio, alle zwischen Juli 1913 und 1914 in Aktion, Neue Kunst und Revolution publiziert; dazu kommen noch 6 unter dem Pseudonym Ha Hu Baley in der Aktion veröffentlichte Gedichte (neben dem oben zitierten Ein und kein Frühlingsgedicht, Der Geliebten, Narzissus, Der blaue Abend, Der Rasta-Querkopf), bei denen nicht genau geklärt ist, wie hoch Balls Anteil war; diese Texte sollen separat untersucht werden.

1.1.2.3.1 Die expressionistische Lyrik Balls

Die Ball-Gedichte dieser Zeit bestehen durchwegs aus rhythmisch freien, teilweise gereimten Langversen39 und sind relativ lang (im Schnitt eine Druckseite / -spalte). Auffällig ist das starke Interesse Balls an der Verwendung eines sehr weiten Wortschatzes40, der auf Neologismen ebenso wie auf unerwartete Zusammensetzungen, vergessene und ungebräuchliche Wörter oder Spezialausdrücke zurückgreift; dadurch kommt es zu einer exotisch-erlesenen Diktion – so ist etwa in der Weißen Qualle von Raubblume, Scharlachbaum, Affen und grüne[n] Geigen und Unzuchtsbäume[n] die Rede. Die Suche nach dem Wort, der exzessive Sprachgebrauch verrät ein Ungenügen nicht nur an der Welt des Alltags, sondern auch an ihrer Sprache.

Als auch der Perpendickel aus dem Eingeweid der Uhr
Heraushing blutig wüst, ein ärztlich Instrument aus Messingblechen
Und sich die Bilder an der Wand verschoben
Wie großer Geisterhände sacht vorhandene Flächen,
Da schwang sich der grünen Bestie [der Katze] maßlose Erregung
Sich pfeifend auf des Spiegelschrankes Bogen,
Den Rücken hochgekrümmt wie Augenbrauen,
Die sich japanische Prinzessen vormals zogen. (Die Katze)

In diesem Beispiel ist auch zu verfolgen, wie der Drang zur Spracherweiterung allmählich auch syntaktisch den Boden der Konvention verläßt. Die Grazie, die ziere Erfindung, der Schmuck41, den das Gedicht vermittelt, dringen in Wortstellung und Grammatik ein; die Texte Balls werden dadurch oft schwer lesbar.