Webstandards im Wandel

Ergänzungen zu c't 1/07, Seite 160

Interview mit Mathias Schäfer

Mathias Schäfer alias "molily" wirkt bei dem bekannten Webstandards-Dokumentationsprojekt SELFHTML mit und ist Webdesign-Experte.

Sollte das W3C eher seinen strengen XML-Kurs fortsetzen oder die fehlertolerante HTML-Praxis weiterentwickeln?

Den Mittelweg, den die WHAT WG mit der Vereinheitlichung und Standardisierung einer fehlertoleranten Code-Verarbeitung geht, sollte sich das W3C zum Vorbild nehmen.

Nichtsdestoweniger hat auch die strenge XML-Linie ihre Existenzberechtigung in der Webentwicklung. (X)HTML ist zu einem Format geworden, das zunehmend sauber strukturierte Daten enthält. Da bildet sich ein pragmatisches, auf (X)HTML aufbauendes Semantisches Web. Es ist daher immer noch wünschenswert, dass Autoren und Programmierer an die Nutzung von XHTML herangeführt werden, denn dieses ist für Web-Dienste viel einfacher zu verarbeiten. Genauso müssen Autorenwerkzeuge weiterentwickelt werden.

Die meisten Webstandards, die auf SELFHTML vorgestellt werden, haben schon ein paar Jährchen auf dem Buckel. Verschläft das W3C die Zukunft des Webs?

Innovative Entwicklungen finden in der Tat jenseits des W3C statt. Das W3C versucht derweil, diese neuen Technologien, die außerhalb des W3Cs entstanden sind, wieder "einzufangen" und zu integrieren; man denke an Ajax. Das ist zum Teil auch durchaus zu begrüßen, denn es handelt sich oftmals um wild gewachsene Quasi-Standards, die noch nicht offen und herstellerunabhängig dokumentiert sind. Das W3C sollte diese Vermittlerrolle stärker wahrnehmen.

Hat XHTML2 noch eine Chance, sich als Standard durchzusetzen?

Derzeit sehe ich keine Perspektive, weder von Seiten der Browserhersteller noch von Seiten der Webautoren.

Auch wenn XHTML2 viele gute Ansätze hat, die die Praxis vereinfachen würden, hängen an XHTML2 unzählige Techniken des riesigen W3C-Frameworks (XForms, XFrames, XML Events, RDF usw.). Es ist nahezu unmöglich, sich all diese Techniken anzueignen – insbesondere für Hobby-Webseitenbastler.

Die Idee eines umfassenden, in sich geschlossenen Systems ist meines Erachtens den meisten Webseiten-Autoren zuwider – sie setzen lieber auf kleine, leichter erlernbare Formate, selbst wenn diese nicht die akademische Reinheit besitzen wie die Luftschlösser des W3C. Die Vorteile der komplexen, modularisierten W3C-Techniken kommen höchstens in der professionellen Anwendung zu tragen. Aber auch dort sucht man die wirtschaftlichste Umsetzung.

SELFHTML ist eine der ältesten und bedeutendsten Plattformen zur Erklärung und Diskussion von Webstandards. Finden die Macher mit Anregungen und Kritik Gehör beim W3C?

Das W3C stellt für Feedback verschiedene Mailing-Listen zur Verfügung. Die Diskussionen dort sind allerdings oft abgehoben und fernab der Praxis. Wir haben diese Diskussionen oft verfolgt, aber uns selten eingemischt, denn auf ein offenes Ohr stießen Engagierte selten.

Das W3C hat bisher nie die Initiative ergriffen und von sich aus den Dialog mit der Basis gesucht. Erst in letzter Zeit kam Bewegung in das W3C, nachdem einflussreiche Basisgruppen ihren Unmut ausdrückten. Unser Webangebot beteiligt sich schon länger an der kritischen, praxisbezogenen Diskussion der Webstandards. Das W3C hat lange nicht auf die vielen wichtigen Wortmeldungen aus der Community gehört. Mittlerweile kommt Leben in die Öffentlichkeitsarbeit des W3Cs und manchmal hört man sogar ein "ja, wir hören zu".

Wie beurteilen Sie die handwerkliche Qualität der W3C-Standards – also Verständlichkeit, Eindeutigkeit und Fehlerquote?

Gerade der wichtigste Webstandard, HTML 4.01, wurde seit fast sieben Jahren nicht mehr gepflegt (kleine Errata ausgenommen). Praxiserfahrungen flossen daher nicht zurück in die Spezifikation, genausowenig wurden Unklarheiten beseitigt oder die Lesbarkeit für Einsteiger verbessert.

Glücklicherweise kommt jedoch der CSS-Standard voran, indem mit CSS 2.1 eine überarbeitete, fehlerbereinigte und an die Praxis angepasste Spezifikation ansteht.

Es ist ein allgemeines Problem, dass technische Spezifikationen mit solcher Komplexität für Normalsterbliche oft unzugänglich sind. Nicht nur das W3C hat aus dem Blick verloren, dass das Web ein offenes, demokratisches Medium für jeden sein sollte. Webstandards dürfen daher nicht wie Gesetzestexte nur für wenige Spezialisten verständlich sein.

Was halten Sie von der Arbeit der WHAT WG? Sehen Sie in ihr eher eine Alternative oder eine Ergänzung zum W3C?

Momentan arbeitet die WHAT WG ihrem Selbstverständnis nach als Ergänzung zum W3C, indem es technische Spezifikationen erarbeitet und diese dann dem W3C vorliegt. In dieser Rolle ist die Arbeit der WHAT WG nur zu begrüßen und hat bereits Früchte getragen.

Nicht zuletzt macht die WHAT WG dem W3C Beine: Das alternative Entwicklungsmodell der WHAT WG hat innerhalb kurzer Zeit viel Sympathie gewonnen. Das W3C, das gleichzeitig den Anschluss an seine Klientel verliert, wird dadurch zu Reformen gezwungen, wie der jüngst von Tim Berners-Lee ausgerufene Kurswechsel zeigt.