Harte Kost

Informatik ist in: Wohl 30 000 Erstsemester drängeln sich in diesem Herbst mit großen Hoffnungen in die Universitäten und Fachhochschulen. Läuft alles wie bisher, werden 15 000 davon bald enttäuscht zu Hause bleiben - und die übrigen fünfzig Prozent, die ihr Studium fortsetzen, hören als Begleitmusik die Klagen von Industrie und Politikern über Praxisferne sowie lange Studienzeiten. Was müssen Informatiker können und wie bildet man sie aus? Kluge Ansätze sind gefragt.

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Lesezeit: 20 Min.
Von
  • Dr. Jörn Loviscach
Inhaltsverzeichnis

Die Wirtschaft ruft. Und die Studenten strömen. Mehr als 1000 Zulassungen hat allein die Uni Karlsruhe letzten Monat für das Informatikstudium verschickt, bei einer Kapazität von etwa 550 Plätzen. Die TU München dürfte wieder bei 1000 Erstsemestern landen, die TU Dresden in den verschiedenen Informatik-Studiengängen bei 900. Wie es aussieht, dürfen die deutschen Unis und Fachhochschulen zum aktuellen Wintersemester mehr als 30 000 Informatik-Anfänger begrüßen, dreimal so viel wie vor drei Jahren. An den meisten Fachhochschulen scheint die Lage mit eher 50 als 100 Studenten in Grundvorlesungen noch vergleichsweise entspannt. Jedoch fällt damit der FH-typische, dem Schulunterricht ähnliche Vorlesungsstil ins Wasser - und damit ein großer Teil der interaktiven Arbeit mit Studenten.

An Universitäten wird diese in den ersten Semestern komplett in Übungsgruppen ausgelagert. Pro Vorlesung kommen inzwischen leicht 40 Gruppen zusammen, die betreut werden wollen. Aber in Bezug auf die Betreuer gibt es ein Personalproblem: Durch verlockendere Angebote der Industrie sind viele Stellen im akademischen Mittelbau verwaist. So leiten immer mehr Drittsemester Übungsgruppen - oder die Aufgaben werden gar nicht mehr einzeln korrigiert.

An einigen Unis begleiten Studenten höherer Semester die Erstsemester in Eigeninitiative (www.o-phase.com). Einen anderen Weg geht etwa die Universität Oldenburg - hier kann sich jeder Informatikstudent einen persönlichen Betreuer (‘Mentor’) aus dem akademischen Personal wählen.

Allein mit Ansprechpartnern ist es aber noch nicht getan: Für Seminare und Laborveranstaltungen müssen Dozenten her, dazu Technik und Räume. Letzteres ist nicht ganz so tragisch, weil die meisten Studenten ihr Informatiklabor zu Hause unter dem Schreibtisch stehen haben oder sogar im Rucksack herumtragen. In ähnliche Richtung zielen auch die Programme vieler Universitäten, Funkvernetzung und Notebooks zu etablieren.

Allerdings lassen sich die Kapazitäten auch damit nicht beliebig erweitern. Nach den Fachhochschulen ziehen inzwischen auch die Universitäten verstärkt die Notbremse und begrenzen die Zahl der zugelassenen Bewerber. Manche Hochschulen stützen den Numerus Clausus (NC) nicht pauschal auf die Schulabschlussnote, sondern geben Informatik-relevanten Schulnoten stärkeres Gewicht, so etwa die Uni Ulm für den NC in Medieninformatik oder die Uni Karlsruhe. Letztere hat ein solches ‘Eignungsfeststellungsverfahren’ zum aktuellen Wintersemester zwar vorsichtshalber eingeführt, aber trotzdem alle Bewerber zugelassen. Aus Erfahrung sind die Karlsruher offenbar davon ausgegangen, dass sich auch dieses Mal mindestens ein Drittel der Studenten noch anders entscheidet.

Ein NC wird vom Land festgeschrieben, nicht von der Hochschule. Trotzdem bleibt die Rechtfertigung kritisch: Abgelehnte Studenten, die das Nein zu ihrer Zulassung anfechten, finden durchaus Richter, die keine Überlast erkennen - zum Beispiel weil im selben Fachbereich noch ein Studiengang ohne Beschränkung läuft (www.studienplatz-recht.de).

Als Alternative beginnt sich der ‘NC danach’ zu etablieren: Zum Beispiel in Baden-Württemberg müssen Studenten spätestens im dritten Semester eine ‘Orientierungsprüfung’ ablegen, sonst endet ihr Studium zwangsweise.

Viele Informatik-Novizen bleiben gar nicht so lange: Allerorten leeren sich bereits in den ersten Wochen die Hörsäle und Rechnerlabore drastisch - und das nicht erst, seitdem sich die Studenten dort gegenseitig auf die Füße treten.

Studienabbruch - egal ob freiwillig oder zwangsweise - ist nur eines der drei großen Probleme, mit denen die Informatik hierzulande schon lange kämpft: An den Unis verfolgen nur 35 Prozent der Erstsemester ihr Studium bis zum Abschluss, 55 Prozent sind es an den Fachhochschulen (www.uni-essen.de/isa/). Die Studiendauer bis zum Uni-Diplom beträgt im Mittel sechseinhalb Jahre. Und: Arbeitgeber vermissen bei den Absolventen Grundkompetenzen und praktische Fähigkeiten. Der aktuelle Massenbetrieb potenziert diese Probleme nur. Eine Beschränkung der Studentenzahlen - angesichts des beklagten Fachkräftemangels ohnehin fragwürdig - kann sie nicht lösen, sondern bestenfalls lindern.

Die Ursachen sind vielschichtig. Ein Punkt: Trotz aller FAQs, Lehrpläne und Vorlesungsskripte im Internet scheint vielen Interessenten weitgehend unbekannt zu sein, welche Anforderungen ein Informatikstudium stellt. Was sich die Studienanfänger unter Informatik vorstellen, ist bisher nur wenig erforscht [1|#literatur], scheint sich aber häufig nicht mit der Realität zu decken.

Inhalt und Form der Hochschulausbildung bestimmen sich vor allem aus den Vorstellungen der Professoren und den Forderungen der Arbeitgeber und Berufsverbände. Dabei schwelt in der akademischen Welt immer noch der Streit zwischen Forschern, die nach Erkenntnis streben, und Ingenieuren, die konstruieren und erfinden wollen. Der derzeitige Informatikboom gilt vor allem der Ingenieurtätigkeit: Praktikable Lösungen für konkrete Aufgaben sind gefragt.

Nimmt man die verschiedenen Anforderungen von Hochschulen und Verbänden sowie die Profile der Stellenangebote zusammen, könnte der Steckbrief des ‘idealen’ angewandt arbeitenden Informatikers so aussehen:

  • Beherrscht das Handwerk: Anwendung typischer Hard- und Software, Programmiersprachen, grundlegende Algorithmen, Datenbanken, Vernetzung und so weiter. ‘Ein Softwareentwickler benötigt ebenso Datenbankkenntnisse, wie ein Datenbankfachmann über Know-how in der Softwareentwicklung verfügen muss’, fasst das Weiterbildungsunternehmen CDI seine Auswertung von Stellenangeboten aus dem ersten Quartal 2001 zusammen, sicher nicht unglücklich über den Lernbedarf.

  • Arbeitet mit Überlegung, plant, informiert sich. Studienordnungen pflegen Begriffe wie ‘Umfassende Methodenkompetenz’ und ‘Analytische Fähigkeiten’. Gerade der Entwurf eines Systems aus Hardware, Software und Umgebung (sprich: Menschen) verlangt methodisches Vorgehen.

  • Wendet sein Wissen kreativ an. Dieser Gedanke kommt in politischen Papieren eher etwas zu kurz - anders als in den Vorstellungen der Studenten: ‘Das Bedürfnis, kreativ, schöpferisch zu sein, sprechen sich für ihr zukünftiges Leben drei Viertel der Studienanfänger zu. Sehr ausgeprägt ist es in künstlerischen [...] und in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen’, folgert die Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) aus ihrer Studienanfängerbefragung 1998/1999.

  • Ermittelt die Anforderungen einer geplanten Anwendung, einschließlich ergonomischer, wirtschaftlicher, rechtlicher und gesellschaftlicher Randbedingungen. Entwickelt gemäß den Anforderungen und prüft, ob das System den Anforderungen genügt. Kennt das Umfeld der jeweiligen Anwendung in Theorie und Praxis.

  • Bildet sich selbstständig und aus Eigeninitiative fort. Ein Informatiker muss fundiert entscheiden, welche der ständig neuen Verfahren und Hilfsmittel er einsetzt, und sich darin einarbeiten - ob Entwurfsmethoden oder Funknetze. Viele Arbeitgeber erwarten allerdings unrealistischerweise fertige Spezialkenntnisse in exakt passender Kombination [3|#literatur].

  • Kann effektiv und effizient in Gruppen arbeiten und Gruppen leiten. Beim sprichwörtlich verschrobenen Computerspezialisten erkennt Gunter Dueck, ‘IBM Distinguished Engineer’, dagegen Symptome des Irrsinns [4|#literatur].

So manches könnte man der Liste noch hinzufügen: So ist es zum Beispiel erforderlich, sich auf Deutsch und Englisch im gesprochenen und geschriebenen Wort ausdrücken zu können. Auch die Fähigkeit, seine Leistung, seine Produkte und sich selbst zu ‘verkaufen’, spielt wie nahezu überall eine große Rolle.

Universitäten [5|#literatur] legen typischerweise mehr Gewicht auf die akademische Seite, Fachhochschulen [6|#literatur] mehr auf die praktische. Aber die Unterschiede sind inzwischen nicht mehr gravierend - insbesondere bei den neuen Bachelor-Abschlüssen, wie etwa in den Akkreditierungsstandards der Gesellschaft für Informatik festgelegt.

Recht deutlich ist dagegen der Unterschied bei der Studiendauer: Informatikabsolventen des Jahres 1998 hatten an Unis im Mittel 13 Semester hinter sich, obwohl acht bis zehn Semester vorgesehen sind. An Fachhochschulen waren es knapp zehn Semester bei einer Regelstudienzeit von acht Semestern.

Dieser Unterschied zwischen Uni und FH zieht sich quer durch alle Studiengänge. Der Wissenschaftsrat macht in seiner aktuellen Untersuchung an erster Stelle, wenn auch ohne Nachweis, schlechte Studienorganisation und mangelnde Betreuung für die längere Verweildauer der Uni-Studenten verantwortlich - an FHs dominieren immer noch überschaubare Gruppen mit klarem Stundenplan. Noch ein Indiz für die Wirkung der Betreuung: Studenten in den neuen Bundesländern mit ihren bisher weniger überlaufenen Unis gelangen schneller zum Abschluss.

Informatiker benötigen etwa ein Jahr länger bis zum Uni-Diplom als Absolventen von natur- oder ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen. Das war auch schon vor dem Boom so, dürfte also nicht an einer besonders schlechten Betreuung liegen.

Eine Erklärung könnte in den hohen Anforderungen bestehen, die regelmäßig zu hohen Durchfallquoten bei Prüfungen führen. Der Dominoeffekt: Wenn Studenten eine Veranstaltung wiederholen, leidet darunter ihre Beteiligung an anderen Veranstaltungen. Ein Versuch zur Linderung: An der Uni Ulm finden seit mehreren Jahren zu Vordiplomfächern Repetitorien statt, getragen von der Initiative der Studenten und finanziell unterstützt vom Fachbereich.

Doch auch äußere Faktoren kosten Zeit: Viele Informatikstudenten jobben nebenbei nicht wie Kommilitonen aus anderen Studienfächern ein paar Stunden im Supermarkt, sondern arbeiten praktisch im Nebenberuf als Administratoren, Programmierer oder Webdesigner - schlecht für die Statistik, gut für die Berufspraxis. ‘Ich habe zwar viele Grundlagen in der Zeit meines Studiums mitbekommen,’ berichtet ein Student, ‘aber sehr viel mehr in der Zeit meiner Nebentätigkeit als Java-Programmierer gelernt.’

‘Duale’ Studiengänge an Berufsakademien [6|#literatur] und anderen Hochschulen integrieren die Berufspraxis ganz offiziell, trotz einer Regelstudiendauer von meist drei Jahren. Ein Trick, der mancherorts dabei hilft: Die Semesterferien fallen weitgehend aus, stattdessen gibt es pro Jahr drei Trimester. Verkürzte Semesterferien liegen auch dem ‘Intensivstudiengang Informatik’ der Uni Ulm zugrunde. Vorlesungen am Samstag können ebenfalls geeignet sein, das Studium zu komprimieren.

Im Eiltempo sollen nun auch in Deutschland Bachelor-Studiengänge zum Abschluss führen - durch Verkürzung auf sechs bis sieben Semester. Erst mit einem angehängten Master-Studium von weiteren drei oder vier Semestern erreicht man einen Abschluss, der als dem Uni-Diplom gleichwertig gilt. Noch gibt es hierzulande keine Bachelor-Absolventen, deren Erfahrungen und Studienergebnisse Auskunft über den Erfolg geben können.

Angesichts der angestrebten Studienzeiten von acht Semestern beim FH-Diplom oder sogar nur sechs Semestern beim Bachelor umfasst der Steckbrief des ultimativen Informatikabsolventen ein utopisches Lernpensum. Das schreit nach radikaler Entrümpelung. Aber stattdessen versuchen viele Hochschulen, gleichzeitig in die Breite und in die Tiefe zu gehen [7|#literatur]. Zum Schluss können die Studenten alles, aber nichts richtig.

Deutlich lässt sich das am entstehenden Curriculumsvorschlag der Informatikverbände ACM und IEEE Computer Society nachvollziehen: Innerhalb der Computergrafik-Vorlesung sollen Dozenten in insgesamt nur drei Unterrichtsstunden unter anderem polygonale Darstellung, Splines, Boolesche Operationen, Metaballs, prozedurale Modelle und Subdivision Surfaces vermitteln.

Als stillschweigender Konsens, das Breite-Tiefe-Dilemma anzugehen, etabliert sich das problemorientierte Lernen (Problem-Based Learning) [7|#literatur]. Schon lange dienen in den höheren Semestern Projekte und auch Praktika dazu, gezielt in die Tiefe zu bohren. Geschickt angelegt, vermitteln sie aktuelles Anwendungswissen, Teamarbeit, Projektplanung und selbstständigen Wissenserwerb.

Ein herausragendes Beispiel ist das ‘Hacker-Praktikum’ der TU Darmstadt: Zwei Studentengruppen müssen eigene Netze aufbauen und Webseiten sowie andere Dienste öffentlich bereitstellen. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, das eigene System gegen Eindringlinge zu sichern und gleichzeitig das System der jeweils anderen Gruppe zu knacken. Die Möglichkeiten, an dieser Aufgabe zu lernen, reichen von Unix-Systemverwaltung über Recherche bis zum Strafrecht.

Immer mehr Dozenten ziehen größere Projekte auch in die ersten Semester. Ursula Wolz, Professorin in New Jersey, unterbricht ihren Java-Anfangskurs für eine dreiwöchige Exkursion: Die Studenten müssen Lego-Spielzeugroboter so programmieren, dass diese in einem unbekannten Gelände zum markierten Ziel finden [8|#literatur].

Nicht erst am Verhältnis von Breite und Tiefe der Kenntnisse scheiden sich die Geister, sondern auch schon daran, auf welcher Höhe das Studium ansetzen soll. Die meisten sind sich noch einig, dass die Anwendung von Microsoft Word ebenso wenig zum Informatikstudium gehört wie einen PC zusammenzuschrauben.

Bislang galt als selbstverständlich, dass sich die Studenten solche Fähigkeiten selbst aneignen. Doch die Zeiten ändern sich: Die Gesellschaft für Informatik empfiehlt den Universitäten, zur Anwendungsorientierung eine fachpraktische Ausbildung in das Diplomstudium einzubetten.

Einige Hochschulen bieten parallel zur Netzwerk-Vorlesung die Zertifizierung zum Cisco Network Associate an - vielleicht schon zu viel Schulung auf Strippenziehen und auf die Technik dieses einen Herstellers.

Eine gewisse Distanz der Universitäten zum Handwerklichen spiegelt sich immer noch im Programmierunterricht wider. Noch 1989 schrieb Computerpionier Edsger W. Dijkstra: ‘Um klarzustellen, dass dieser Einführungskurs in Programmierung vornehmlich ein Kurs in formaler Mathematik ist, achten wir darauf, dass die fragliche Programmiersprache nicht auf dem Campus implementiert ist. Dadurch sind die Studenten vor der Versuchung gefeit, ihre Programme zu testen.’

Erst das Hirn einschalten, dann den Rechner - das gilt nach wie vor. Dennoch stehen die Hochschulen vor der Aufgabe, ihren Studenten möglichst schnell, fundiert und alltagstauglich Programmieren beizubringen. Denn Entwürfe überprüft man nicht zuletzt durch Tests an Prototypen. Profunde Programmiererfahrungen sind auch gefragt, wenn es etwa darum geht, sich zu entscheiden: Soll der Web-Shop in einer Scriptsprache, in Java oder mit einem waschechten C-Programm entstehen?

Anders als von Dijkstra gefordert, machen sich Studenten heute sofort die Finger an real existierenden Programmiersprachen schmutzig. Dabei starten allerdings viele Universitäten zunächst mit vereinfachten und/oder exotischen Sprachen wie Scheme. Das soll den Vorsprung der Studenten verringern, die bereits programmieren können, und ihnen einen besseren Programmierstil abnötigen.

Spätestens an Fachhochschulen oder in den kurzen Bachelor-Studiengängen bleibt aber keine Zeit mehr, um erst eine ‘saubere’ und dann eine ‘richtige’ Programmiersprache zu lernen. C, C++ oder Java stehen im ersten Semester an, wobei Java immer mehr Anhänger findet. Die Java-Studenten müssen sich dann allerdings meist C++ selbst beibringen - samt der dazugehörigen Komplikationen, die sie von Java nicht kennen.

Mit einer Allerweltssprache anzufangen und dennoch das Zurechthacken einzudämmen, verlangt Fantasie. Debora Weber-Wulff, Informatikprofessorin in Berlin, macht Front gegen die Studenten, die planlos experimentieren, bis sie dem Compiler ein kompilierbares Programm abgerungen haben.

Sie beginnt ihre Anfängervorlesung nicht mit Algorithmen, sondern mit einfachen Vorstellungen von Objekten und Ausdrücken. Im zugehörigen Programmierlabor wird nicht das Ergebnis benotet, sondern der Bericht über jedes ‘Experiment’. Am Anfang soll ein Punkt auf dem Bildschirm durch Eingabe von Formeln bewegt werden; am Ende spielen selbst geschriebene Programme zum Beispiel im Netzwerk Katz und Maus.

Die Fehlersuche, das Haupt-Handwerk jedes Entwicklers, ist derzeit im Lehrstoff kaum verankert. Angesichts dessen ist es kein Wunder, wenn Studenten noch im vierten Semester stundenlang zu Fuß nach dem Grund für ein Fehlverhalten suchen - obwohl der nur einen Mausklick entfernte Debugger nach fünf Minuten zum Erfolg führen würde.

Schon sauberer Stil verbessert die Codequalität deutlich. Um den zu lernen, muss man über Programme diskutieren - mit hundert Studenten gestaltet sich das schwierig. Aus diesem Grund ist an der Universität Passau der über das Web zugängliche ‘Praktomat’ eingerichtet worden (www.fmi.uni-passau.de/st/praktomat/). Hier besprechen die Studenten ihre Programme anonym gegenseitig. Dabei lernt jeder nicht nur von den Anmerkungen seiner Kommilitonen, sondern auch aus den eigenen Schwierigkeiten, fremde Programme zu verstehen.

Praktomat ist ein gelungenes Beispiel für den Einsatz neuer Medien in der Lehre [9|#literatur]. Anders als elektronische Skripte, Vorlesungsvideos oder dumpfe Multiple-Choice-Aufgaben geht das System raffiniert über die Möglichkeiten klassischer Medien hinaus.

Lebendiger Unterricht und verschlankte Studiengänge werden eines nicht ändern: Informatik lebt von Abstraktion und von sauberem Denken. Die FAQ der Newsgroup ‘de.soc.studium’ formuliert die Konsequenz:

Frage: Ich habe kein Interesse an Mathematik und will Informatik studieren. Wie mache ich das am besten?

Antwort: Gar nicht. [...]

Softwareentwicklung verlangt, die wahre Welt in Formeln und Logik zu fassen - eine große Schwierigkeit für die meisten Schulabsolventen, ob Abiturienten oder nicht. Sie können kaum Zusammenhänge zwischen Zahlen, Formen und Formeln herstellen. Das hat etwa die dritte internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie TIMSS gezeigt.

Anders als man vermuten könnte, steht die Modellbildung aber selten auf dem Lehrplan der Hochschul-Mathematik. Vor allem Unis mit gemeinsamen Vorlesungen für Mathematiker und Naturwissenschaftler schockieren die Erstsemester mit einer abstrakten Abfolge von Definitionen, Sätzen und Beweisen, statt weiter vorne anzusetzen.

Obendrein passt die Stoffauswahl der Hochschulmathematik nicht recht zum Bedarf: Nach einer Studie von Timothy C. Lethbridge, Professor in Ottawa, stufen viele Software-Engineering-Praktiker die Differential-/Integralrechnung und andere Klassiker der Mathematik unter die unwichtigsten Themen ein. Der Curriculumsvorschlag von ACM und IEEE Computer Society zieht den Stöpsel: An Mathematik bleiben im Kernstoff der Computer Science nur die ‘Diskreten Strukturen’.

Umgekehrt benötigen viele Spezialisierungen der Informatik wesentlich mehr Mathematik als den Stoff der Grundvorlesungen. Medieninformatik-Studenten, die sich aufs Webseitenbasteln gefreut haben, erleben ihr blaues Wunder: Cosinus- und Wavelet-Transformation für JPEG und JPEG-2000, homogene Koordinaten und kubische Flächen für OpenGL.

Die Mathematik-Veranstaltungen sind im Studium nur der erste Stolperstein von vielen. Durchfallquoten von 70 Prozent in Elektrotechnik-Klausuren sprechen für sich - ebenso wie Aussagen von Studenten, die berichten, an ihrer Uni werde ‘mit Praktischer Informatik rausgeprüft’. Wenn jemand mehrdimensionale Integration weder in der Vorlesung noch mit Büchern lernt, ist es unwahrscheinlich, dass er sich selbstständig zum Beispiel in eine Bibliothek aus 100 Klassen mit 2000 Methoden einarbeiten kann.

Brenda Cantwell Wilson und Sharon Shrock, zwei US-Dozentinnen, haben näher untersucht, wovon der Erfolg im Informatikstudium abhängt. Als wichtigsten Faktor neben dem mathematischen Hintergrund fanden sie Wohlfühlen, wozu vor allem eine gute Betreuung und ein angstfreies Klima beitragen. Was die Vorerfahrungen am Rechner angeht, waren Programmierausbildung und Computerspiele Faktoren für das Bestehen; Spiele gingen aber gleichzeitig mit schlechteren Noten einher. Erfahrungen mit Internet und Standardsoftware wirkten sich dagegen kaum aus.

Ein gutes Angebot allein reicht jedoch nicht: Das HIS fand in seiner Studienanfängerbefragung 1998/1999 als ein wichtiges Motiv ‘das Bemühen, ”sehr gut (zu) verdienen, viel Geld (zu) haben.“ [...] ‘Vor allem künftige Wirtschaftswissenschaftler, Ingenieure und Juristen streben nach einem hohen Einkommen.’

In einer Newsgroup schreibt ein Student: ‘Ich sehe inzwischen das Studium als Ansammlung von Klausuren, die ich bestehen muss, und von Veranstaltungen, die einen auf die Klausuren vorbereiten sollen.’ Mit dieser Einstellung kann man Verkehrsregeln pauken - aber kaum den intelligenten Umgang mit komplexen Systemen lernen.

Im Zuge der Entwicklung, Studenten als Kunden aufzufassen, droht obendrein die Einsicht verloren zu gehen, dass Wissenschaft anstrengt. Wissen und Können lassen sich nur erarbeiten, nicht einfach ins Hirn füllen. Dass Wissenschaft anstrengt, darf natürlich auch kein Freibrief für schlechte Lehre sein. ‘Bei der Qualität von Vorlesungen im Allgemeinen studiert man doch eh fast ausschließlich zu Hause’, schreibt ein Student im Heise-Forum.

Aber das Studium sollte umgekehrt auch nicht Hochglanz-Zeitschriften nachahmen oder zur Multimedia-Berieselung verkommen. Vielmehr ist mehr Werkstattcharakter nötig - nicht zuletzt als Vorbereitung auf das wahre Leben.

Ob Roboter-Projekte oder Java-Experimente: Es gibt unzählige Ideen, wie man den nötigen ganzheitlichen Ansatz verwirklichen kann. Um ihn trotz der aktuellen Studentenzahlen umzusetzen, sind allerdings noch viele Geistesblitze gefragt - eine Chance für alle Informatiker, die sich Kreativität auf die Fahnen geschrieben haben. (anm)

Dr. Jörn Loviscach, vormals stellvertretender Chefredakteur der c't, ist Professor für Computergrafik, Animation und Simulation an der Hochschule Bremen.

[1] Tony Greening: Computer Science - Through the Eyes of potential Students, ACSE 98, S. 145

[2] Manfred Broy, Joachim Schmidt: Informatik, Grundlagenwissenschaft oder Ingenieurdisziplin? Informatik-Spektrum 22 (1999), S. 206

[3] Ben Schwan: Der IT-Expertenmangel - ein Mythos?, Lohndumping statt Expertenmangel auf dem IT-Arbeitsmarkt, c't 19/01, S. 100

[4] Gunter Dueck: Wen stellen wir bloß ein, Teil 1: Von Dilbert und anderen bis zur Selbstentlarvung, Informatik-Spektrum 23 (2000)

[5] Markus Stöbe: Lang und breit, Informatikstudium an Deutschlands Universitäten, c't 13/00, S. 188

[6] Thomas Schult: Kurz und gut, Fachhochschulen und Berufsakademien: Der flotte Weg zur Karriere, c't 13/00, S. 180

[7] John Biggs: Teaching for Quality Learning at University, Open University Press, 1999

[8] Ursula Wolz: Teaching Design and Project Management with Lego RCX Robots, SIGCSE 2001 2/01, S. 95

[9] Jörn Loviscach: Die elektronische Uni, Neue Medien in der Lehre, c't 4/01, S. 108 (anm)