Lebenskonserve

Inhalteanbieter im Internet mögen glauben, sie lieferten nur digitale Momentaufnahmen flüchtiger Gedanken - der deutsche Gesetzgeber sieht das jedoch anders: Netzpublikationen sollen wie Bücher als erhaltenswertes Kulturerbe gelten und somit von der Deutschen Nationalbibliothek dauerhaft aufbewahrt werden. Damit diese eine solche Mammutaufgabe irgendwie wahrnehmen kann, verpflichtet das Gesetz die Anbieter zur Ablieferung der zu archivierenden Inhalte. Wie das genau funktionieren soll, ist jedoch noch weitgehend unklar.

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Lesezeit: 21 Min.
Von
  • Kai Mielke
  • Holger Bleich
Inhaltsverzeichnis

Welches Echo würde jemand finden, der öffentlich die Absicht bekundete, sämtliche Webzines, Wikis, Diskussionsforen, Newsticker, Ratgeber- und Nachschlage-Angebote des deutschen Internet komplett zu archivieren, und zwar mit all ihren wechselnden Inhalten? Wenn derjenige dann auch noch ernsthaft betonte, er lege es darauf an, dass all dies auf eine Zeitspanne von mindestens einhundert Jahren verfügbar sein solle, würden selbst Freunde verrückter Ideen ein Lachen kaum noch unterdrücken können.

Die Vorstellung, die wie ein Musterbeispiel aus dem Projektkatalog der sagenhaften Schildbürger klingt, hat jedoch einen durchaus ernsten Hintergrund - nämlich das Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek (DNBG), das seit 29. Juni dieses Jahres in Kraft ist und das frühere Gesetz über die Deutsche Bibliothek (DBG) abgelöst hat. Das DNBG enthält den Auftrag an die Deutsche Nationalbibliothek, neben gedruckten sowie auf Ton- und Datenträgern gespeicherten „Medienwerken“ auch solche, die in „unkörperlicher Form“ vorliegen, der Nachwelt zu erhalten. § 3 Nr. 3 des Gesetzes sagt, dass damit „alle Darstellungen in öffentlichen Netzen“ gemeint sind.

Gleichzeitig gilt nun auch für Autoren und Betreiber deutschsprachiger Netzpublikationen dieselbe Verpflichtung, die bisher schon für Buch- und Zeitschriftenverlage sowie andere Medienproduzenten galt: Sie müssen ihre Werke in geeigneter Form an die gesetzlich beauftragten Kulturkonservierer „abliefern“. Wer diese Ablieferungspflicht nicht ernst nimmt, dem droht das DNBG in § 19 Nr. 3 vorsorglich ein Bußgeld an, das bis zu 10 000 Euro betragen kann.

Die Deutsche Nationalbibliothek, die vor Inkrafttreten des DNBG noch schlicht „Deutsche Bibliothek“ hieß, hat mit einer gewöhnlichen Bücherei kaum etwas gemeinsam. Als größte Archivbibliothek Deutschlands bildet sie so etwas wie das bibliografische Gedächtnis der Nation und fungiert als Hüterin des deutschen Kulturerbes. Ihre Aufgabe besteht in erster Linie darin, alle deutschen, deutschsprachigen und aus dem Deutschen übersetzten Publikationen sowie Veröffentlichungen über Deutschland ab dem Jahr 1913 zu sammeln, dauerhaft zu archivieren und Interessierten zugänglich zu machen. Entsprechend eindrucksvoll lesen sich die Bestandszahlen der Institution mit Hauptsitz in Frankfurt am Main, zu der auch die Deutsche Bücherei in Leipzig und das Deutsche Musikarchiv in Berlin gehört: Gegenwärtig verzeichnet man an allen drei Standorten rund 22,2 Millionen „Einheiten“, also Werke. Davon befinden sich etwa 13,2 Millionen in Leipzig, circa 7,8 Millionen in Frankfurt und ungefähr 1,2 Millionen in Berlin.

Damit die Nationalbibliothek ihren gesetzlichen Auftrag wahrnehmen kann, müssen diejenigen, die zur Verbreitung oder öffentlichen Zugänglichmachung von Medienwerken berechtigt sind, mindestens ein so genanntes Pflichtexemplar dort abliefern (§§ 14, 15 DNBG). Das muss normalerweise kostenlos passieren. Wenn allerdings bei Werken, die in „körperlicher Form“ vorliegen, die Gratis-Ablieferung für den Produzenten eine unzumutbare Härte darstellen würde, bezuschusst die Bibliothek auf Antrag ausnahmsweise die Herstellungskosten der abzuliefernden Exemplare [1].

Nach der bis zum 29. Juni 2006 geltenden Gesetzeslage bezog sich der Sammelauftrag noch ausschließlich auf „körperliche“ Medienwerke, insbesondere Printmedien und Tonträger. Aufgrund der zunehmenden Bedeutung des Internet regten einige staatliche Stellen und auch Verlage bereits Mitte der neunziger Jahre eine Erweiterung auf digitale, nicht trägergebundene Veröffentlichungen an.

Ein erster Schritt in diese Richtung wurde im Jahr 2001 unternommen: Im Einvernehmen mit dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels führte die Deutsche Bibliothek ein freiwilliges Ablieferungsverfahren für trägerungebundene digitale Publikationen ein. Nichtgewerbliche Veröffentlichungen und die Programme kleinerer Verlage konnte man damit jedoch nicht erfassen - der Zweck einer möglichst lückenlosen Sammlung war auf diesem Wege nicht zu erreichen.

Im Jahr 2005 brachte Christina Weiss, zu der Zeit Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, im Kabinett den Entwurf eines novellierten DBG ein. Dieser sah neben der Umbenennung der Deutschen Bibliothek in „Deutsche Nationalbibliothek“ eine umfassende, auf „unkörperliche“ Medienwerke erweiterte Sammel- und Ablieferungspflicht vor.

Angesichts der rasanten Entwicklung des Internet mit seiner schier unüberschaubaren Menge an Darstellungen in Schrift, Bild und Ton kann dies nur als mächtig ambitioniertes, wenn nicht als abenteuerliches Unterfangen gelten - allerdings stehen solche Pläne im Einklang mit ähnlichen Bestrebungen auf internationaler Ebene: So hat die Generalkonferenz der UNESCO im Jahr 2001 eine Resolution zur Bewahrung des digitalen Erbes angenommen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch beispielsweise in Australien und Kanada sind mittlerweile ernsthafte nationale Bestrebungen im Gang, ein Instrumentarium zur Bewahrung digitaler Kulturgüter zu schaffen. Am weitesten fortgeschritten ist die Entwicklung in Großbritannien, wo bereits am 30. Oktober 2003 ein Pflichtstückgesetz verkündet wurde, das auch die Ablieferung nicht gedruckter Veröffentlichungen regelt [2].

Nachdem der Bundestag am 22. Juni 2006 den alten Kabinettsentwurf der Schröder-Regierung in nahezu unveränderter Form als DNBG beschloss, sind nun mit dessen Inkrafttreten auch in Deutschland die Weichen für eine Bewahrung dessen gestellt, was als digitales Kulturerbe gelten soll. Bei genauerer Lektüre des Gesetzes beschleicht denjenigen, der sich ein wenig mit dem Internet auskennt, allerdings unweigerlich das Gefühl, der Gesetzgeber könne wohl bei der Definition des abgabepflichtigen Sammelguts kräftig übers Ziel hinausgeschossen sein, wenn dazu „alle Darstellungen in Schrift, Bild und Ton“ gehören sollen, die sich „in öffentlichen Netzen“ finden.

Sollte es tatsächlich beabsichtigt sein, alle deutschsprachigen oder Deutschland betreffenden Web-Inhalte zu sammeln und zu archivieren? Also nicht nur Publikationen im engeren Sinne, sondern auch Unternehmensphilosophien, Anfahrtsbeschreibungen, Kochrezepte und private Fotosammlungen? Und wie steht es mit E-Mail-Newslettern, Forengeplauder und Blogs?

Eine eigens zu diesem Themenkomplex eingerichtete FAQ-Seite auf der Website der Deutschen Nationalbibliothek gibt auf Fragen dieser Art nur teilweise eine Antwort [3]. So sollen in die erweiterte Ablieferungs- und Sammelpflicht zunächst diejenigen Publikationen einbezogen werden, die es in ähnlicher Art auch in der Welt der gedruckten Medien gibt, also etwa elektronische Tageszeitungen, Magazine und Monografien, Lexika und andere Nachschlagewerke.

Darüber hinaus sollen aber auch andere Websites gesammelt werden, deren Informationsgehalt über reine Öffentlichkeitsarbeit, Warenangebote, Arbeitsbeschreibungen sowie Bestandsverzeichnisse oder -kataloge hinausgeht. Zeitlich begrenzte Vorabveröffentlichungen und wissenschaftliche Preprints, reine Anwendungswerkzeuge sowie Fernseh- und Hörfunkproduktionen bleiben hingegen außen vor.

Langfristig gesehen soll sich der gesetzliche Sammelauftrag auch auf webspezifische Publikationen erstrecken, die sich durch dynamische Entwicklung, interaktive Kommunikationsfunktionen und multimediale Komponenten auszeichnen - und hier dürften wohl schon vom Ansatz her die meisten Probleme lauern. Nach eigener Einschätzung muss die Nationalbibliothek in diesem Bereich noch erhebliche Entwicklungsarbeit leisten, um das Web-Material adäquat archivieren und verfügbar machen zu können. Eine Neufassung der Pflichtablieferungsverordnung und der Sammelrichtlinien soll den gesetzlichen Sammelauftrag „in naher Zukunft“ konkretisieren.

Zur derzeitigen Ungewissheit über den genauen Umfang des Sammelauftrages der Nationalbibliothek gesellt sich - gewissermaßen spiegelbildlich - die Frage, welche digitalen Werke denn nun genau bei ihr abzuliefern sind und wie die Autoren und Website-Betreiber ihrer Ablieferungspflicht nachkommen sollen.

Das DNBG selbst enthält dazu nur einige grundlegende Aussagen: Wer berechtigt ist, ein Medienwerk in unkörperlicher Form zu verbreiten oder öffentlich zugänglich zu machen, und den Sitz, eine Betriebsstätte oder den Hauptwohnsitz in Deutschland hat, ist verpflichtet, das Werk „in einfacher Ausfertigung“ abzuliefern, und zwar „vollständig, in einwandfreiem, nicht befristet benutzbarem Zustand“ und so, dass die Bibliothek es dauerhaft archivieren kann.

Das hat „auf eigene Kosten“ zu geschehen - und zwar sehr schnell, nämlich innerhalb einer Woche nach dem Erscheinen. Sozusagen mit einem unsichtbaren „Übrigens“ schiebt das Gesetz in § 16 Abs. 1 noch ganz elegant einen Satz hinterher, der auch wieder eine Menge Fragen aufwirft, welche derzeit niemand beantworten kann: „Medienwerke in unkörperlicher Form können nach den Maßgaben der Bibliothek auch zur Abholung bereitgestellt werden.“

Weitere Regelungen, insbesondere über das Ablieferungsverfahren selbst, enthält das DNBG nicht. Dergleichen bleibt der neu zu fassenden Pflichtablieferungsverordnung überlassen - ebenso wie die Konkretisierung des gesetzlichen Sammelauftrages bezüglich digitaler Werke. Dennoch wird derzeit bereits ein bestimmtes Ablieferungsverfahren praktiziert, das wie folgt funktioniert [4]: Zunächst muss man sich als Ablieferer einer Netzpublikation bei der Nationalbibliothek anmelden. Dies geschieht mit Hilfe eines herunterladbaren Vordrucks [5]. Das ausgefüllte Formular sendet man per E-Mail, Fax oder Briefpost ein. Daraufhin erhält man eine Anmelderkennung und ein Passwort, die den Zugang zu einem Webformular erschließen. Dieses füllt man online aus; anschließend bekommt man eine Lieferungsidentifikation mitgeteilt. Wenn das erledigt ist, packt man alle zur Netzpublikation gehörenden Daten in eine Archivdatei (.zip, .tar, .tgz oder tar.gz). Als Dateiname für die Archivdatei muss man die Lieferungsidentifikation verwenden. Das gepackte Archiv wird dann mit einem FTP-Client an die Adresse ftp://deposit.d-nb.de übertragen, wofür man wiederum die zu Beginn des Ablieferungsverfahrens mitgeteilte Anmelderkennung sowie das Passwort benötigt.

Die Nationalbibliothek weist auf ihrer Website darauf hin, dass sie zurzeit auch an alternativen Transfermöglichkeiten sowie an Verfahren zur Erfassung ganzer Objektgruppen - wie etwa vollständiger Websites - arbeitet. In diesem Zusammenhang ist von automatisierten Harvesting-Verfahren die Rede, die man zur Sammlung ganzer Bereiche des Internet einsetzen will. Der Einsatz dieser Verfahren im Rahmen des erweiterten Sammelauftrags der Nationalbibliothek befindet sich derzeit allerdings noch im Entwicklungsstadium.

Nicht nur in technischer Hinsicht lassen das DNBG und die Aussagen der Nationalbibliothek zahllose Fragen offen. Der Gesetzgeber hat mit seinem Versuch, der digitalen Wende im Medienbereich auch im Hinblick auf die Erhaltung von Internet-Inhalten gerecht zu werden, zunächst einmal für eine Menge Verunsicherung gesorgt.

[1] Die in § 17 DNBG enthaltene Härtefallregelung geht auf die Pflichtexemplar-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BverfG) zurück: Beschluss vom 14. 7. 1981, Az. 1 BvL 24/78, in: BVerfGE 58, 137

[2] Legal Deposit Libraries Act 2003

[3] FAQ zur Abgabe von Netzpublikationen

[4] Ausführliche Beschreibung des Ablieferungsverfahrens

[5] Schritt-für-Schritt-Darstellung des Anmelde- und Ablieferungsvorgangs

§ 2: Aufgaben, Befugnisse

Die Bibliothek hat die Aufgabe,

1. a) die ab 1913 in Deutschland veröffentlichten Medienwerke und

b) die ab 1913 im Ausland veröffentlichten deutschsprachigen Medienwerke, Übersetzungen deutschsprachiger Medienwerke in andere Sprachen und fremdsprachigen Medienwerke über Deutschland

im Original zu sammeln, zu inventarisieren, zu erschließen und bibliografisch zu verzeichnen, auf Dauer zu sichern und für die Allgemeinheit nutzbar zu machen sowie zentrale bibliothekarische und nationalbibliografische Dienste zu leisten ...

§ 3: Medienwerke

(1) Medienwerke sind alle Darstellungen in Schrift, Bild und Ton, die in körperlicher Form verbreitet oder in unkörperlicher Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

(2) Medienwerke in körperlicher Form sind alle Darstellungen auf Papier, elektronischen Datenträgern und anderen Trägern.

(3) Medienwerke in unkörperlicher Form sind alle Darstellungen in öffentlichen Netzen.

(4) Filmwerke, bei denen nicht die Musik im Vordergrund steht, sowie ausschließlich im Rundfunk gesendete Werke unterliegen nicht den Bestimmungen dieses Gesetzes.

§ 14: Ablieferungspflicht

(1) Die Ablieferungspflichtigen haben Medienwerke in körperlicher Form nach § 2 Nr. 1 Buchstabe a in zweifacher Ausfertigung gemäß § 16 Satz 1 abzuliefern. Musiknoten, die lediglich verliehen oder vermietet werden (Miet- oder Leihmaterial), haben die Ablieferungspflichtigen in einfacher Ausfertigung gemäß § 16 Satz 1 abzuliefern.

(2) Die Ablieferungspflichtigen haben Medienwerke nach § 2 Nr. 1 Buchstabe b in einfacher Ausfertigung gemäß § 16 Satz 1 abzuliefern, wenn eine Inhaberin oder ein Inhaber des ursprünglichen Verbreitungsrechts den Sitz, eine Betriebsstätte oder den Hauptwohnsitz in Deutschland hat.

(3) Die Ablieferungspflichtigen haben Medienwerke in unkörperlicher Form nach § 2 Nr. 1 Buchstabe a in einfacher Ausfertigung gemäß § 16 Satz 1 abzuliefern.

(4) Wird die Ablieferungspflicht nicht binnen einer Woche seit Beginn der Verbreitung oder der öffentlichen Zugänglichmachung des Medienwerkes erfüllt, ist die Bibliothek nach Mahnung und fruchtlosem Ablauf von weiteren drei Wochen berechtigt, die Medienwerke auf Kosten der Ablieferungspflichtigen anderweitig zu beschaffen.

§ 15: Ablieferungspflichtige

Ablieferungspflichtig ist, wer berechtigt ist, das Medienwerk zu verbreiten oder öffentlich zugänglich zu machen und den Sitz, eine Betriebsstätte oder den Hauptwohnsitz in Deutschland hat.

§ 16: Ablieferungsverfahren

Die Ablieferungspflichtigen haben die Medienwerke vollständig, in einwandfreiem, nicht befristet benutzbarem Zustand und zur dauerhaften Archivierung durch die Bibliothek geeignet unentgeltlich und auf eigene Kosten binnen einer Woche seit Beginn der Verbreitung oder der öffentlichen Zugänglichmachung an die Bibliothek oder der von dieser benannten Stelle abzuliefern. Medienwerke in unkörperlicher Form können nach den Maßgaben der Bibliothek auch zur Abholung bereitgestellt werden.

Ute Schwens ist als Direktorin des Frankfurter Standorts der Deutschen Nationalbibliothek verantwortlich für die künftige Sammlung „nichtkörperlicher“ Werke. Im Gespräch mit c't erläutert sie, wer zur Anlieferung verpflichtet werden könnte.

c't: Frau Schwens, die Nationalbibliothek soll nun auch Inhalte nichtkörperlicher Medien, also beispielsweise Webseiten, archivieren. Aus heiterem Himmel kommt dieser Auftrag des Gesetzgebers ja nicht. Sind Sie denn vorbereitet?

Schwens: Das wird eine Mammutaufgabe, da kann man nichts beschönigen. Wir haben bereits Erfahrungen mit freiwilligen Ablieferern gesammelt. Darauf werden wir aufbauen. Uns ist klar, dass wir noch mehr investieren müssen, um dem erweiterten Auftrag gerecht zu werden. Seitens der Politik wurde uns die Bereitschaft signalisiert, deshalb 2007 einiges mehr an Personal und Geld zur Verfügung zu stellen. Momentan aber können wir nur in kleinen Schritten vorankommen.

c't: Halten Sie den erweiterten Sammelauftrag für sinnvoll?

Schwens: Ja. Die Zeiten ändern sich. Wir beobachten, dass sich beispielsweise das Medium Zeitschrift langsam auflöst und durch elektronische Publikationsformen ersetzt wird. In 100 Jahren werden sich die Nutzer fragen: „Huch, das gabs mal auf Papier?“ Die Inhalte sind es aber immer wert, dass man sie in irgendeiner Weise weiterträgt und versucht, sie für künftige Generationen verfügbar zu halten.

c't: Das Gesetz klingt ein wenig so, als wolle man eine staatliche Suchmaschine ins Leben rufen.

Schwens: Nein, wir haben nicht vor, Google Konkurrenz zu machen. Wir gehen als Bibliothek davon aus, dass wir mit Objektbeschreibungen arbeiten werden. Wir wollen unsere digitale Sammlung so erfassen, wie wir einzelne Bücher beschreiben. Erst in einem zweiten Schritt könnten wir dann den Nutzern ähnlich wie die Suchmaschinen einen Volltextindex anbieten. Darauf wollen wir schon allein aus Budgetgründen zu Beginn verzichten; die ständige Indexierung erfordert immense Rechner-Power.

c't: Wollen Sie tatsächlich alle kommerziellen und nichtkommerziellen Web-Veröffentlichungen erfassen?

Schwens: Derzeit beschränken wir uns auf Netzpublikationen, die eine Entsprechung im Printbereich haben, also beispielsweise Online-Ableger von kommerziellen und nichtkommerziellen Zeitungen und Zeitschriften. Auf jeden Fall werden wir die Archivierung auf Formen ausdehnen, die originär dem Web entsprungen sind, also etwa Blogs, Wikis und gegebenenfalls Foren.

c't: Drohen Betreibern solcher Angebote Bußgelder, wenn sie ihre Inhalte nicht abliefern? Dem neuen Gesetz zufolge gilt es als ja Ordnungswidrigkeit, der Ablieferungspflicht nicht nachzukommen.

Schwens: Solange wir noch in der Übergangsphase sind, werden wir bei dieser Klientel natürlich erst einmal noch keine Ordnungswidrigkeitsverfahren anstrengen. Uns ist ja bewusst, dass wir die technische Basis noch gar nicht anbieten können. Bei Zeitschriften etwa sieht es anders aus: Für Verlage werden wir bald Lieferschnittstellen bereithalten, und dann wollen wir die Materialien natürlich auch erhalten und dem Nachdruck verleihen. Wir werden das halten wie im Buchbereich: Wenn wir eine Publikation nicht bekommen, wird gemahnt. Falls das nicht fruchtet, leiten wir ein Ordnungswidrigkeitsverfahren ein.

c't: Sie wollen also Blogs und Foren bald komplett erfassen?

Schwens: Nein, zumindest vorläufig noch nicht, das wird ein langer Prozess. Wir beginnen wie erwähnt mit den Verlagspublikationen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen im Web und testen erst einmal die Verfahren. In Absprache mit den Betreibern wollen wir ohnehin nicht jeweils die gesamten Sites erfassen, sondern nur die für unseren Auftrag interessanten Inhalte. Bei Unternehmen etwa werden wir den ganzen Bereich Öffentlichkeitsarbeit sicherlich links liegen lassen.

c't: Es ist schwer vorstellbar, dass Sie dynamische Sites sinnvoll archivieren können. Im Forum von heise online beispielsweise laufen in Spitzenzeiten bis zu acht Beiträge pro Sekunde ein.

Schwens: Wir werden natürlich nicht jede Änderung auf einer Webseite registrieren können. Aber wir hoffen, dass wir in möglichst kurzen Abständen Sites neu erfassen können. Die Entscheidung wird materialabhängig zu treffen sein, als Richtwert bei Zeitungen beispielsweise könnte einmal täglich eine sinnvolle und praktikable Vorgehensweise sein. Generell wollen wir uns schrittweise vortasten und erst einmal vorwiegend statische Inhalte erfassen.

Übrigens besorgen wir uns derzeit auch Know-how in der freien Wirtschaft, etwa bei Suchmaschinenanbietern. Auch bezüglich Fragen des Datenmanagements holen wir uns Hilfe. Die Langzeitarchivierung, Verwaltung und Verfügbarmachung der gewaltigen Datenmengen stellt eine enorme Aufgabe dar. Hinzu kommt, dass sich die technische Umgebung laufend verändert. Vor diesem Problem stehen wir immer. Da geht es dann nicht nur um eine neue PDF-Version, sondern etwa um Dateiformate von Atari, Apple oder Commodore 64.

c't: Wollen Sie nur Texte archivieren?

Schwens: Der gesetzliche Auftrag lautet: Wir sammeln Texte, Bilder, Töne. Kommerzielle Bildverwertungsagenturen im Web werden wir sicherlich erst einmal nicht verpflichten, da besteht noch Klärungsbedarf. Auch Werbebanner interessieren uns natürlich nicht. Podcasts lassen wir außen vor. Aber Bilder als illustrierender Teil von Websites gehören zum Sammelauftrag.

c't: Für die Anbieter von Webinhalten wird es ernst, wenn die Pflichtablieferungsverordnung in Kraft tritt. Wann ist damit zu rechnen?

Schwens: Das wissen wir nicht, weil der Entwurf noch nicht einmal verabschie-det ist, er wird zurzeit in mehreren Ministerien diskutiert. Schon jetzt gilt aber der gesetzliche Auftrag und wird, zumindest bei monografieartigen Veröffentlichungen auch bereits erfüllt. Anbieter von Webinhalten, die sich über ihre Ablieferungsverpflichtung unsicher sind, können und sollten bereits jetzt zu uns Kontakt aufnehmen.

c't: Und wenn der Text vorliegt, wissen Sie genau, wen Sie zur Ablieferung von Text- und Bilddaten auffordern müssen?

Schwens: Darin wird konkreter als im Gesetz selbst definiert sein, wer zur Abgabe verpflichtet ist. Allerdings können Sie nicht erwarten, dort Begriffe wie „Web-Forum“ oder „Web-Log“ zu finden. Der Grund ist klar: Nichtkörperliche Publikationsformen entwickeln sich ständig weiter, und wir können nicht bei jedem Hype eine neue Pflichtabgabenverordnung formulieren. Stattdessen gibt es seit jeher die Sammelrichtlinien für die Nationalbibliothek, in denen en detail geklärt wird, was wir sammeln müssen und was nicht. Auch für den technischen Bereich werden wir darin Vorgaben zu der Frage veröffentlichen, in welchen Formen eine Anlieferung oder Abholung von Website-Inhalten vonstatten gehen kann.

c't: Viele der Inhalte, die Sie einsammeln wollen, sind urheberrechtlich geschützt. Unterlaufen Sie nicht diese Rechte, indem Sie die Werke öffentlich abrufbar machen?

Schwens: Die Ablieferer müssen uns so genannte Metadaten mitschicken. Dabei handelt es sich insbesondere um technische und rechtliche Informationen. Wir fragen beispielsweise ab, welche Nutzungsrechte uns eingeräumt werden und ob wir die Werke der Öffentlichkeit verfügbar machen dürfen. Wir wollen nicht verlegerisch tätig sein und Entgelte von unseren Nutzern verlangen. Dafür hätten wir auch keine Abrechnungsschnittstellen. Wenn wir keine Erlaubnis zum Abruf der archivierten Web-Inhalte über unsere Online-Recherche-Tools erhalten, werden sie eben nur in der Präsenzbibliothek zugänglich sein.

c't: Suchmaschinen-Caches gelten als problematisch, weil sie bisweilen Inhalte zugänglich machen, die wegen nachträglich festgestellter Rechtsverletzungen illegal sind. Mit diesem Problem dürfte auch die Nationalbibliothek konfrontiert sein, oder?

Schwens: In der Tat. Wir haben in der Testphase schon erlebt, dass unser Crawler Webseiten gecacht hatte, die später vom Betreiber aus rechtlichen Gründen geändert werden mussten. Selbst wenn man vom strafrechtlichen Bereich absieht, ist das tatsächlich ein großes Problem. Als Minimum müssen wir unseren Nutzern stets klarmachen, dass sie sich in einem Archiv und nicht im „Live-Web“ befinden. Wenn sie durch einen aktiven Link ins aktuelle Web gelangen, müssen sie einen Warnhinweis erhalten. Wir kennen die Problematik ja auch aus der Buchwelt: In unseren Archiven befinden sich Werke, deren Zugänglichmachung durch Gerichtsurteile untersagt ist. Bei Webseiten wird das nicht anders sein: Wenn wir Kenntnis von solchen Fällen erhalten, müssen wir den Zugriff auf diese Archivdateien sperren. (psz)