Vom Toposkop zu den Reizmaschinen
William Grey Walter, der vor 100 Jahren geboren wurde, hat wichtige Grundlagen der Hirnforschung geschaffen. Er koppelte seine Erkenntnisse über das menschliche Hirn mit den Ideen von Norbert Wiener über die Kybernetik als Regelkreise aller lebenden Wesen.
- Detlef Borchers
Heute vor 100 Jahren wurde der Neurophysiologe William Grey Walter geboren. Seine Arbeiten mit dem Toposkop gehören zu den Grundlagen der heutigen Hirnforschung. Seine Erkenntnisse über das menschliche Hirn koppelte Walter mit den Ideen von Norbert Wiener über die Kybernetik als Regelkreise aller lebenden Wesen. Mit seinen "machinae speculatrix" CORA, ELSIE, ELMER und IRMA gilt Walter als Pionier der KI-Forschung in der Entwicklung autonomer Roboter.
William Grey Walter wurde am 19. Februar 1910 im US-amerikanischen Kansas City als Sohn britischer Eltern mit deutschen Vorfahren geboren. Sein Großvater war der Dirigent Bruno Walter. 1915 ging die Familie nach England zurück, wo William Grey Walter nach der Schule in Cambridge Biologie, Physik und Medizin studierte. Der Deutsch sprechende Walter studierte außerdem in Deutschland Embryologie in Freiburg. Von 1935 bis 1939 arbeitete Walter als Neurophysiologe in London und stand dabei im regen Kontakt zur deutschen Forschung. Als seine maßgeblichen Lehrer nannte Walter später den Jenaer Neurologen Hans Berger, den Entwickler der Elektronenzephalographie (EEG), den Breslauer Gehirnchirugen Otfried Förster und den Holländer Jan Friedrich Tönnies, der am Berliner Institut für Hirnforschung den ersten schreibenden Oszillographen entwickelte und die Elektropathologie begründete. Walter arbeitete mehrere Monate im Labor von Tönnies und im Labor des Verhaltensforschers Iwan Pawlow.
Der Kommunist lehnte eine Anstellung in der Sowjetunion ab und wechselte stattdessen an das neurologische Institut im englischen Bristol, wo er von 1939 bis 1970 arbeitete. Seine neurophysiologische Arbeit musste er im Zweiten Weltkrieg unterbrechen. Er forschte an der Verbesserung von Radarsystemen und lernte unter anderem die Arbeiten von Alan Turing und Norbert Wiener kennen. In Bristol entwickelte er eine Kombination aus EEG, Oszillographen, Filmkameras und Stroboskopen, die er Toposkop nannte und die als Vorläufger heutiger Gehirn-Topographen gilt. Zu seinen Entdeckungen mit dem Toposkop gehört der Ursprung der Alphawellen im Gehirn und der Nachweis, dass man Delta-Wellen nutzen kann, um Tumore im Gehirn zu lokalisieren. In späteren Jahren arbeitete Walter nach der Entdeckung des Bereitschaftspotenzials durch die deutschen Hirnforscher Hans Helmut Kornhuber und Lüder Deecke an dem Problem der bedingten Reflexe. Bei der Untersuchung der dahinter liegenden Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, soll sich Walter nach Aussagen seines Sohnes Nicholas Walter vom Kommunisten zum Anarchisten entwickelt haben. In seinen Schriften gibt es dafür keinen Beleg.
Als Mitglied des interdisziplinären Ratio Clubs hatte William Grey Walter zahlreiche Kontakte mit Wissenschaftlern, die an der Entwicklung von Rechnersystemen arbeiteten oder sich mit allgemeinen Fragen der Genetik beschäftigten. Ausgehend von seiner Forschung und den Ideen, die er in der Sowjetunion bei Pawlow kennengelernt hatte, begann Walter Ende der 40er Jahre kleine Maschinen zu bauen, um das Reflexverhalten zu erforschen. Er nannte sie zunächst Machina Speculatrix, Machina Docilix oder Machina Labyrinthea in Anlehnung an den Homöostaten von William Ashby, der Machina Sopora genannt wird. Später bekamen seine Vehikel, die er auch Kaminfeuergenossen titulierte, richtige Namen. 1950 war es die stationäre CORA (Conditioned Reflex Analogue), es folgten der mobile Prototyp ELMER (ELectro-MEchanical Robot) und ELSIE (Electro-mechanical robot, Light-Sensitive with Internal and External stability). ELSIE besaß drei Räder, einen Elektromotor, ein paar Röhren und einen Photosensor. Einmal abgesetzt, konnte das Vehikel, das wie eine Schildkröte aussah, eigenständig "nach Hause" in eine beleuchtete Höhle rollen. ELSIE war das berühmteste Vehikel von Walter, da es 1951 auf dem Festival of Britain unter dem reißerischen Titel "The robots are amongst us!" vorgestellt wurde.
Mit der Konstruktion mobiler Sensoren und Effektoren durch William Grey Walter wurde die Kybernetik praktisch. Walter wollte nicht lustige Roboterchen entwickeln, sie waren der erste Versuch, ein elektrisches Nervenmodell zu entwickeln, bei dem sich Reize wie im Gehirn mit seinen Synapsen fortpflanzen. "Grey Walter hat uns damals alle überrascht, die Klugen haben gleich verstanden, dass das der bessere Weg ist, die Braven haben das als Spielzeug abgetan. Ich bilde mir ein, dass meine Vehikel (die freilich von Grey Walters Schildkröten inspiriert waren) den Weg für eine 'synthetische Psychologie' frei gemacht haben, wenn dieser Weg auch nicht sehr beschritten wurde", erklärte Valentin Braitenberg, emeritierter Professor für biologische Kybernetik, die Verdienste Walters gegenüber heise online.
Hinter seinen Experimenten sah Walter ein neues Informationssystem entstehen. 1961 erschien sein Hauptwerk "Das lebende Gehirn" auf Deutsch und wurde ein Hit bei den Sachbüchern. Zum Ende des Buches heißt es:
Das Speichern und Ordnen von Tatsachen durch Druck, Film oder Lochkarten ist uns vertraut. Aber die Mechanisierung der Verstandeskräfte, der Gebrauch von Maschinen zum Bestimmen des Sinnes zum Herausziehen der Bedeutung und zum logischen Schließen ist für viele Menschen ebenso fremdartig und abstoßend, wie es vor fünf Jahrhunderten die Idee der beweglichen Lettern war. Die Maschinen, die jetzt in unseren Labors blitzen und ticken, sind die ersten Formen des erweiterten Lebens des lebenden Gehirns, die ersten Ansätze gesamtmenschlichen Verständnisses, so wie Gutenbergs erste Druckerpressen die Vorläufer der Revolution waren.
William Grey Walter starb am 6. Mai 1977 an den Spätfolgen eines schweren Autounfalls aus dem Jahre 1970. (anw)