IT-Chauvinismus: Warum sich die IT überschätzt

Dank Digitalisierung sind Software und IT für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidend. Oder ist das IT-Chauvinismus?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 369 Kommentare lesen
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Eberhard Wolff
Inhaltsverzeichnis

Dank Digitalisierung sind Software und IT für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidend. Oder ist das IT-Chauvinismus?

Viele Produkte sind mittlerweile reine Software oder Software definiert zumindest wesentliche Eigenschaften. Ein Software-Update reichte aus, um Teslas Autos mit besserem Beschleunigungsvermögen auszustatten. Fahrassistenten der Teslas werden ständig verbessert. Ein Software-Update könnte eines Tages sogar autonomes Fahren ermöglichen. Wenn solche wichtigen Features, aber auch die Fahrleistungen "nur" von Software abhängen, dann ist diese selbst für so physische Produkte wie Autos entscheidend. Wer schneller und besser Software entwickelt, wird über kurz oder lang die besseren Produkte haben und wettbewerbsfähiger sein.

Dazu kommt, dass viele Geschäftsprozesse mittlerweile durch Software umgesetzt werden. Wer also seine Geschäftsprozesse optimieren will, muss am Ende Software schreiben. Auch hier gilt: Wer die Softwareentwicklung besser beherrscht, kann Prozesse besser optimieren und so wettbewerbsfähiger werden.

Viele Softwareexperten sagen, dass die Qualität der Software und die Codequalität entscheidend für die Änderbarkeit der Software und damit den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens sind. Nach einiger Zeit in der IT-Branche beobachtet man aber, dass wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen oft große Herausforderungen in ihren IT-Systemen haben. Eine offensichtliche Beziehung zwischen Softwarequalität und wirtschaftlichem Erfolg scheint es nicht zu geben. Warum?

Eine mögliche Erklärung ist, dass Marktmechanismen Zeit benötigen, um zu greifen. Wer zu wenig in IT und Software investiert, der wird vom Markt gefegt, aber das kann einige Zeit dauern. Mitwettbewerber werden mit überlegener IT schneller Features ausrollen, Marktanteile gewinnen, und dann ist es zu spät. Also müssen sich Unternehmen mit einer hervorragenden IT früher oder später durchsetzen.

Wer seine IT nicht ausreichend optimiert, kann sich schon mal einen geeigneten Insolvenzverwalter suchen. Damit ist der Sieg von besserer IT und überlegenen Softwareentwicklungsansätzen wie Agilität unausweichlich. Es erscheint aber oft nicht so, als würden diese Marktmechanismen wirklich so effektiv wirken. Daher muss es auch andere Erklärungsmöglichkeiten geben.

Vielleicht ist die Wahrnehmung der IT einfach falsch. IT-Experten finden IT wichtig, weil es ihr Bereich ist. Sie beschäftigen sich tagtäglich mit ihr. Wenn IT für einen persönlich so wichtig ist, nimmt man schnell an, dass es für alle wichtig sein muss. In einem Projekt habe ich die Aussage gehört, dass man im Notfall das Unternehmen ohne Fachbereich weiterführen kann, weil die IT die Prozesse ja sowieso am besten versteht. Das war zwar scherzhaft gemeint, zeigt aber, wie wichtig sich die IT teilweise nimmt.

Wenn IT für den Geschäftserfolg nicht entscheidend ist, dann muss es andere Dinge geben, die zum Erfolg oder Misserfolg eines Unternehmens führen. Und zwar muss es sie selbst dann geben, wenn das Produkt IT-getrieben ist. Ein Beispiel ist die Finanzbranche: In ihr ist eigentlich alles nur IT und Daten. Ein Konto, ein Depot oder eine Versicherungspolice haben anders als ein Auto keine physische Ausprägung, sondern existieren nur als Teil eines IT-Systems.

Also sollte alles ganz einfach sein: Fin-Tech-Start-up gründen, ein neues IT-System aufbauen und so unbelastet von der Legacy der etablierten Konkurrenz schnell neue Features ausliefern und den Markt aufrollen. In der Finanzbranche sind aber ganz andere Faktoren entscheiden: Finanzen, Versicherungen und Banken sind Vertrauenssache. Nicht jeder vertraut einem frischen, hippen Unternehmen sein Geld an. Ich kann mir beispielsweise nicht vorstellen, dass meine Eltern jemals von der Bank, bei der sie jetzt schon viele Jahrzehnte sind, zu einer anderen Bank wechseln. Wenn ein Fin-Tech-Start-up sie als Kunden gewinnen will, muss ein etabliertes Finanzunternehmen, bei dem sie bereits Kunden sind, die Produkte für das Start-up vertreiben. Ein lange am Markt präsentes Unternehmen genießt auch bei anderen Kunden sicherlich mehr Vertrauen als ein neues Start-up.

Demnach ist IT sogar in der so virtuellen Finanzbranche nicht der alleinige Faktor für eine bessere Wettbewerbsfähigkeit. Vielleicht ist es noch nicht einmal der Wichtigste. Das sollten wir IT-Experten im Hinterkopf behalten, denn es ist nur natürlich, die eigene Tätigkeit wichtiger zu finden, als sie tatsächlich ist. Außerdem dürfen wir Investitionen in IT nicht nur mit Wettbewerbsfähigkeit begründen oder gar darauf hoffen, dass sich bessere IT wegen der Marktmechanismen von selbst durchsetzt.

Vielen Dank an meine Kollegin Anja Kammer für die Kommentare zu einer früheren Version des Artikels.

IT ist oft weniger wichtig für den Erfolg eines Unternehmens, als wir IT-Experten denken. ()