Vor 50 Jahren: Unbundling – Impuls für eine unabhängige Softwareindustrie

Am 23. Juni 1969 hat IBM angekündigt, Hard- und Software künftig separat in Rechnung zu stellen – ein Gründungsmoment der unabhängigen Softwarebranche.

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IBM /360

(Bild: IBM)

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Inhaltsverzeichnis

Vor 50 Jahren änderte IBM die eigene Vermarktungspolitik. Der Computer-Konzern – gleichermaßen gefürchtet und verehrt als Big Blue – tat offiziell kund, Software, Dienstleistungen und Hardware zu "entbündeln". Künftig sollten die Bestandteile mit einem eigenen Preisschild versehen werden. Auch wenn die Umsetzung in den USA noch bis 1970 und hierzulande bis zum Frühjahr 1972 dauerte, wird dieser Schritt – nicht zuletzt von IBM selbst – als Geburt der Milliarden Dollar-schweren Software- und Services-Industrie verklärt.

Ein erster Gründungsboom von Softwarehäusern setzte in den Industrienationen ein. Heute noch bekannte Firmen wie PSI (1969), Software AG (1969), SAP (1972), Oracle (1977, damals noch unter dem Namen Software Development Laboratories – SDL) oder CA (Computer Associates) nahmen in dem folgenden Jahrzehnt den Geschäftsbetrieb auf.

Bis zu diesem Zeitpunkt stellte der Computer-Konzern seinen Kunden die Programme und Services ohne zusätzliche Kosten zusammen mit dem Rechner zur Verfügung. Software und Services waren natürlich nicht kostenlos. Ihr Wertbeitrag war einfach in dem Preis beziehungsweise der Miete der Gesamtlösung "verborgen". Der Umfang hing schlichtweg vom Verhandlungsgeschick des Kunden und – noch mehr – vom Ermessensspielraum des Verkäufers ab.

IBMs /360-Familie: Teuer in der Entwicklung und Garant von IBMs Vormachtstellung Ende der 60er

(Bild: IBM)

Das galt zwar als branchenüblich. IBM war jedoch in den 60ern mit der /360-Rechnergeneration ungeachtet des hohen Entwicklungsaufwands zu dem mit Abstand dominanten Anbieter im Markt aufgestiegen. Diese Dominanz rief in den USA das Justizministerium auf den Plan, das 1969 kartellrechtliche Untersuchungen gegen IBM aufnahm. Ein Vorwurf lautete, dass der Konzern sich durch seine Ein-Preis-Politik unliebsamer Konkurrenz auf dem Gebiet der Dienstleistungen und Peripheriegeräte entledigte.

Mit der Ankündigung des Unbundling wollte das IBM-Management zum einen die Behörde versöhnlicher stimmen. Zum anderen erkannte es, dass der eigene Konzern Nutznießer der Entkopplung sein wird. Im Softwaregeschäft konnte man nun beispielsweise die Lizenzgebühren an der Leistung des installierten Rechners orientieren und somit neue Einnahmeströme generieren.

Vor dem Unbundling-Beschluss war ein Softwaremarkt nur in Grundzügen erkennbar. Wie überschaubar die Branche zu diesem Zeitpunkt war, verdeutlicht eine von der Zeitschrift Capital veröffentlichte Statistik. Danach erwirtschafteten 1967 die zehn größten Beraterfirmen in der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam neun Millionen DM Umsatz und beschäftigten insgesamt 231 Computerfachleute.

Markt ohne (Software-)Budgets: Bescheidene Anfänge der IT-Beratung in Deutschland

Ein Bericht zum Softwaremarkt in der Bundesrepublik, den die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) im Oktober 1989 veröffentlichte, deutet gleichfalls auf bescheidene Anfänge in den Vor-Unbundling-Zeiten hin. Von den 1989 rund 2350 aktiven Softwarefirmen waren gerade einmal 6 Prozent vor 1971 gegründet worden. 37 Prozent der Firmen hatten dagegen zwischen 1971 und 1980 ihre Tätigkeit aufgenommen.

Dass das Unbundling einen (vielleicht entscheidenden) Impuls für das Entstehen einer unabhängigen Softwareindustrie gab, steht außer Frage. Wahr ist allerdings ebenso, dass die Zeit einfach reif war für die preisliche Emanzipation der Software von seinem Trägersystem. Die technologischen Fortschritte in Kombination mit einem stetigen Preisverfall der Hardware erlaubte zunehmend mehr Unternehmen, einen Rechner für immer mehr Anwendungsgebiete einzusetzen. In Folge stieg der Bedarf an spezialisierten Lösungen rasant. Die Softwarenachfrage stieg in den 70ern laut GMD doppelt so schnell wie ursprünglich angenommen. Gleichzeitig existierte eine formidable Produktivitätsfalle. Während sich das Preis-Leistungs-Verhältnis der Computer um den Faktor 100 verbesserte, stieg die Programmiereffizienz vielleicht um den Faktor 2,5.

Schon ein Jahr nach dem Un-Bundling veröffentlichte die INFRATEST-INFORMATIONSFORSCHUNG ein erstes Nachschlagewerke für Software.

Unter Computerexperten machte daher Ende der 60er, Anfang der 70er das Wort von der "Softwarekrise" beziehungsweise "Softwarelücke" die Runde. Edsger Dijkstra, einer der führenden Köpfe hinter einem mehr mathematisch-formell geprägten Programmierstil, verallgemeinerte in einem Aufsatz einmal: "Solange es keine Maschinen gab, war Programmierung kein existierendes Problem; als wir ein paar schwache Computer hatten, wurde Programmierung zu einem geringen Problem, und nun da wir gigantische Computer haben, ist die Programmierung ein ebenso gigantisches Problem."

Und die Nato führte Ende 1968 in Garmisch-Partenkirchen eigens eine Tagung durch, die sich ausgiebig und ausschließlich mit Fragen des Software Engineering befasste. Ob Software selbst einer separaten Preisauszeichnung bedarf, wurde dort übrigens durchaus kontrovers diskutiert.

Die hohen Kosten für die Programmerstellung und -pflege mündeten beinahe zwangsläufig in dem Wunsch nach größerer Emanzipation und Standardisierung von der konkreten Hardware. Eine "Mehrfachverwendbarkeit" vorgefertigter Programmbausteine versprach, die Entwicklungskosten auf mehrere Schultern zu verteilen und damit den Einsatz für eine größere Anzahl von Unternehmen erschwinglich zu machen.

Erste Nutznießer eines solchen Industriemodells waren in einer Welt der proprietären Hardware zunächst einmal die Rechnerhersteller selbst, in deren Schatten sich die reinen Softwareanbieter weiterhin bewegen mussten. Noch 1978 entfielen hierzulande beispielsweise mehr als ein Drittel des Softwarevolumens und ein Drittel des Anwendungssoftwaremarkts auf die wenigen großen Computeranbieter, die rechnerisch weniger als ein Prozent der Softwareanbieter ausmachten.

Die Preis-"Entbündelung" war folglich zunächst für IBM und andere Rechnerhersteller ein lukratives Geschäft. Ungeachtet dessen gab es im Sommer 1969 jedoch noch einen weiteren Impuls, der unabhängigen Softwareanbietern in der Perspektive zu mehr Freiheit von den proprietären Fesseln der Anbieter und Hardware verhalf. Nach dem Ausstieg der Bell Labs aus dem MULTICS-Projekt (MULTiplexed Information and Computing Services) startete Ken Thompson im Sommer ein eigenes Betriebssystem-Entwicklungsprojekt auf einer PDP-7. Die Bezeichnung MULTiplexed wandelte sich in UNiplexed, und aus dem CS wurde mittels Lautverschiebung ein X. Mitte der 80er war es dann soweit: "Offene Systeme" unter Unix und später Windows NT in Kombination mit dem Client-Server-Konzept verschoben die Machtverhältnisse im Markt endgültig weg von Hardware in Richtung Software und Services. (ane)