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  • schopy

mehr als 1000 Beiträge seit 26.08.2008

Was ist das? "Seele"?

Es gibt Verletzungen des Gehirns, die dazu führen, dass der Verletzte die Namen aller Tiere vergisst, sich aber an die Namen von Pflanzen erinnern kann.

Es gibt Verletzungen des Gehirns, die dazu führen, dass der Verletzte die Namen aller Pflanzen vergisst, sich aber an die Namen von Tieren erinnern kann.

Es gibt Verletzungen des Gehirns, die dazu führen, dass der Verletzte alle einstmals gelernten Frendsprachen vergisst, nur nicht seine Muttersprache.

Es gibt Verletzungen des Gehirns, die dazu führen, dass der Verletzte seine Muttersprache vergisst aber alle einstmals gelernten Fremdsprachen noch beherrscht.

Es gibt Verletzungen des Gehirns, die dazu führen, dass der Verletzte, der einstmals Schokolade liebte und Vanille nicht ausstehen konnte, nun Vanille liebt und Schokolade nicht ausstehen kann.

Es gibt Verletzungen des Gehirns, die dazu führen, dass ein einstmals aggressiver Mensch friedfertig wird - oder umgekehrt.

Für jede noch so minimale und detaillierte Fähigkeit oder Eigenschaft von uns Menschen, für jede Nuance unserer Persönlichkeit, gibt es eine mögliche Verletzung des Gehirns, die diese Fähigkeit oder Eigenschaft beeinträchtigt oder ganz abschaltet oder die jede beliebige Nuance unserer Persönlichkeit oder uns als Person komplett verändert.

Aber trotzdem, wenn bei unserem Sterben nicht nur ein Teil unseres Gehirns zerstört wird, sondern das komplette Organ (die genaue Bestimmung des Zeitpunkts mal außen vor gelassen), dann sollen wir plötzlich auch nach unserem Tod noch Vanille lieben, unseren Hund erkennen und Oma klar und deutlich verstehen können?

Das soll dann unsere "Seele" machen, die während unseres diesseitigen (und also EINZIGEN!) Lebens bei all den nur partiellen Verletzungen des Gehirns tatenlos zuschaute und keinen Finger krümmte, um die nur partiellen Ausfallerscheinungen zu kompensieren?

Ich will damit den Begriff und das Konzept "Seele" gar nicht ganz aus unserem Sprachgebrauch und Denken werfen. Nur in Diskussionen über den Anfang des Lebens (z.B. Schwangerschaftsabbruch) und über den Todeszeitpunkt ist ein Rückgriff auf die "Seele" ein religiotischer Ausweg aus einem realen Dilemma.

Das Dilemma:

Es gibt unzählige Situationen, in denen wir zwar zwei entgegengesetzte Extrema eines Spektrums ganz klar unterscheiden können, in denen wir aber trotzdem keine klare Trennlinie angeben können. In den allermeisten dieser Fälle ist das völlig wurscht, weshalb wir diesen Umstand meist entweder gar nicht wahrnehmen oder mit einem Schulterzucken abtun können.

Nebel ist so ein Fall. Wir können eindeutig unterscheiden zwischen klarer Sicht und dickem Nebel. Aber wir können keine klare Trennlinie angeben, wo genau die Nebelbank beginnt, in die wir gerade reinfahren. Diese Unfähigkeit, eine klare Trennlinie zu bestimmen, verhindert aber nicht die Möglichkeit, eindeutig zwischen den beiden entgegengesetzten Enden des Spektrums zu unterscheiden - zwischen klarer Sicht und dickem Nebel.

Ein weiterer solcher Fall ist der Beginn des Lebens.

Eine Eizelle, die sich zwei- oder dreimal geteilt hat, hat weniger mit einem real existierenden Leben zu tun als der Zellhaufen unter deinem Fingernagel wenn du dich mal an der Nase gekratzt hast. Das eine Ende des Spektrums.

Ob ein frischgeborener (und seinen Unmut über diesen Vorgang laut in die Welt krähender) Säugling lebendig ist oder nicht, muss wohl nicht diskutiert werden. Das andere Ende des Spektrums bei der Frage nach dem Beginn des Lebens.

Wo aber ist die Trennlinie zwischen bloßem Zellhaufen und lebendigem Kind. Auch hier ist eine Unterscheidung zwischen den beiden entgegengesetzten Enden des Spektrums kein Problem (sofern man nicht durch seine religiöse Indoktrination daran gehindert wird). Aber auch hier ist es sehr schwierig, die exakte Trennlinie zu definieren.

Es gibt aber gute Gründe (z.B. den aktuellen Stand der Medizin, der Schwangerschaftsabbrüche ermöglicht) dafür, dass die Gesellschaft dennoch eine Trennlinie festlegt. Die Gesellschaft hat sich für eine Trennlinie bei 3 Monaten entschieden. Ich halte das für einen vertretbaren Kompromiss.

Diese Entscheidung hat - ausgehend vom oben beschriebenen grundlegenden Problem - zwangsläufig einen Touch von Willkür. Das ist unvermeidlich und wäre bei jeder anderen Festlegung für eine Trennlinie eben so. Radikale Positionen sind hier aber zu ignorieren. Und das gilt für beide Richtungen: Weder kann die Position berücksichtigt werden, die die Trennlinie erst bei der Geburt sehen will (Schwangerschaftsabbruch noch im 9. Monat erlaubt), noch kann die Position berücksichtigt werden, die die Trennlinie bereits bei der Befruchtung der Eizelle sehen will ("potentiellem" Leben können wir ja "potentiellen" Schutz angedeihen lassen - damit endlich Ruhe mit diesem Blödsinn ist und wir uns um wirkliches Leben und seine Fähigkeit, Leid zu empfinden, kümmern können).

Dass wir es kurz vor der Geburt mit einem kleinen Menschen zu tun haben, ist ebenso klar zu bestimmen, wie das Vorliegen einer Nebelbank wenn die Sichtweite unter 20 Meter beträgt. Das wir es in der ersten Zeit nach der Befruchtung mit einem bloßen Zellhaufen zu tun haben, ist ebenso klar zu bestimmen wie die klare Sicht bei einer Sichtweite von 300 Kilometer. Die exakte Trennlinie? Beim Nebel sind wir nicht gezwungen, sie festzulegen, beim Thema Schwangerschaftsabbruch schon.

Eine ähnliche Situation ergibt sich auch beim Ende des Lebens. Solange wir keine medizinischen Möglichkeiten hatten, das Leben kranker oder verletzter Menschen zu verlängern, war eine klare Definition einer Tennlinie zwischen Leben und Tod nicht notwendig (nun ja, eigentlich schon, wenn man das Lebendigbegrabenwerden verhindern möchte... anyway...). Seit einiger Zeit haben wir aber recht ausgefeilte medizintechnische Möglichkeiten, was eine klare Definition der Trennlinie notwendig macht.

Auch diese Definition einer Trennlinie, nun eben am Ende des Lebens, wird aunausweichlich einen Touch von Willkür haben. Meiner Meinung nach aber weniger als bei der Definition am Beginn des Lebens. Die Definition über den Hirntod (zumal in der D-A-CH Variante) scheint mir tragfähig und gut zu sein.

Und die Seele?

Die Seele ist in diesem Zusammenhang nur eine religiotische Ausflucht aus dem realen Dilemma, dort eine reale Trennlinie definieren zu müssen, wo die Realität keine exakte Trennlinie liefert. Und das dann auch noch bei einem Thema, das für alle Menschen existenziell wichtig ist. Also nicht bei Fragen wie "Ist das Musik oder Helene Fischer?" oder "Ist das Kunst oder kann das weg?" sondern "Lebt der noch oder ist der tot?"

Und grundsätzlich:

Wer sich für ein Spiegelei hält, ist durch diesen seinen Glauben nicht besser dafür qualifiziert, über solche Fragen nachzudenken, als ein geistig gesunder Mensch.

Wer glaubt, Elvis würde noch leben, auch nicht.

Und wer glaubt, dass ein kosmischer Zombie uns ewiges Leben schenken wird, wenn wir sein Fleisch essen und ihm telepathisch mitteilen, dass wir ihn akzeptiert haben, damit er die böse Macht von unserer Seele nehmen kann, die deshalb auf unserer Seele lastet weil der Vater des Zombies aus Schlachtabfällen (Rippe) eine Frau gebastelt hat, die von einer sprechenden Schlange dazu überredet wurde, von einem Zauberbaum zu essen...

...wer glaubt, der Bösewicht aus einem bronzezeitlichen Vorläufer heutiger Comics, der die Menschheit (minus Noah) komplett vernichtet hat und sich auch nachher nur mit der sich wieder aufrappelnden Menschheit versöhnen wollte, wenn diese seinen einzigen Sohn (den Superhelden des Comics, der Wasser zu Wein verwandelt, mit seinem Blick Eisenbahnschienen schweißt, Tode auferweckt und über Wasser wandelt) zu Tode foltert...

...wer also glaubt, diese Comicfigur wäre real und würde die Menschen nach deren Tod wegen bloßer Gedankenverbrechen(!) bis in alle Ewigkeit foltern...

...wer, nur um im Rahmen von Religionsunterricht seine pathologisch-masochistische Sehnsucht nach ewiger Strafe in die Köpfe möglichst aller unschuldigen Kinder wichsen zu können, glaubt, eine Seele postulieren zu müssen, um nach dem Tod noch ein empfangsbereites Opfer für diese Strafe zu haben, ist durch diesen seinen Glauben ebenfalls nicht besser dafür qualifiziert, bei existenziellen Fragen über Leben & Tod mitzureden, als ein geistig gesunder Mensch.

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