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  • sleepdoc

mehr als 1000 Beiträge seit 09.01.2013

Die Leitlinien werden von denen verfasst...

... die am weitesten von der Praxis entfernt sind.

Schon vor 20 Jahren gab es an einem großen Universitätsklinikum in D die Gewohnheit, dass die eine Hälfte der Anästhesisten habilitieren MUSSTE. Diese Kollegen waren dann selten im OP beim Narkotisieren der Patienten oder mit dem Notarztwagen unterwegs, sonden beschäftigten sich mit Laborratten oder waren auf Kongressen. Die andere Hälfte der Kollegen durfte AUF JEINEN FALL habilitieren, sondern wurde zur Aufrechterhaltung von Narkosebetrieb bzw. Notarztdienst gebraucht. Wenn Gruppe 1 doch mal im OP war, musste im Nachbar-OP-Saal immer ein Kollege der Gruppe 2 auf ihn aufpassen.

Gruppe 1 wurde nach der Habilitation dann Chefarzt, Gruppe 2 maximal Oberarzt.

Gruppe 1 erstellte Guidelines, z.B. ab welcher Sauerstoffsättigung Patienten zu intubieren sind und Gruppe 2 hatte dies zu befolgen.

So viel zu den Fachkompetenzen.

Und hier noch zwei Dinge, die ich mich in letzter Zeit immer wieder gefragt habe:

1. Wenn ich hundert alte Menschen von der Straße nehme, sie auf Intensivstation bringe, intubiere und drei Tage hochinvasiv beatme, dann habe ich ungefähr die Hälfte damit umgebracht, ein weiteres Viertel stirbt an meinen multiresistenten Hospitalkeimen und ein Viertel überlebt vielleicht, teilweise als Pflegefall.
Das ist leider bittere Medizin.

2. Wenn ich nicht den Patienten behandele, sondern die Mess- und Laborwerte, dann müsste ich jeden Höhenbergsteiger, der über 7000 Hm herumläuft umgehend intubieren. Die Leute haben tagelang Sauerstoffsättigungen unter 90 Prozent. Gut, nach 14 Achttausendern sind sicherlich ein paar Hirnzellen futsch, aber Boxer und Taucher leben damit auch.

Das, was früher ärztliche Intuition war, die ja auch der Kollege im verlinkten Video hat, ist heute wegzertifiziert. Wir werden kaputtzertifiziert und durch QM-Leitlinien gleichgeschaltet, die o.g. Gruppe 1 der Habilitierten beschäftigt sich mit Krankenhausmanagement und Abrechnungsfragen. Und Gruppe 2 verzweifelt an der Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis.

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