Dort wird auch der Zusammenhang zu den massiven Einschränkungen der Grundrechte in Zeiten von Corona angesprochen: "[1] Auch Freiheitsrechte, wie Versammlungsfreiheit, Streiks und das simple Recht über eine Straße laufen zu dürfen, ohne von der Polizei kontrolliert zu werden, sind schon jetzt massiv eingeschränkt. [2] Mögen manche Maßnahmen in Zeiten einer Pandemie durchaus Sinn ergeben, sind sie aktuell vor allem eines: Eine Vorbereitung auf kommende Proteste und Bewegungen, die sich gegen die Herrschaft der Reichen und Mächtigen auflehnen!"
Dacht ich zuerst, es ginge um etwas anderes, wurde ich gegen Ende des Artikels dann eines Schlechteren belehrt. Dumm nur, dass das Zitat geradezu modellhaft steht für eine sophistische Argumentation, die berechtigte Befürchtungen am falschen Objekt abarbeitet. Der erste Satz [1] ergeht sich in Übertreibung. Man kann unkontrolliert über die Strasse laufen wie immer (Racial profiling in dieses 'wie immer einbeziehend), es sei denn man trage, wo vorgeschrieben, keine Maske. Streiks finden statt, gerade im öffentlichen Dienst. Von Einschränkung nichts zu sehen. Besonders problematisch ist dieses "schon jetzt", das einen Nexus herstellt zu einem befürchteten Zustand. Diesen selbst halte ich nicht für ausgeschlossen, der Nexus aber ist inexistent. Die aktuellen Einschränkungen sind sachlich begründbar und nicht politisch motiviert.
Der zweite Satz [2] setzt mit einer rhetorischen Finte ein. Es wird die Möglichkeit, nur die Möglichkeit eingeräumt, gewisse Massnahmen könnten sachlich begründet sein. Um dann aber schnurstracks auf den zuvor mit den Worten 'schon jetzt' behaupteten Nexus aufzuspringen und sie als Vorbereitung auf etwas anderes zu denunzieren. Die Politik habe eine Agenda, die sie okkasionalistisch verfolge. Die Pandemie komme gerade recht - oder schlimmer, werde aufgeblasen, was nicht explizit gesagt wird, aber mitschwingt -, um die Masse unter Knute und Kontrolle zu bringen. Daher auch die Notwendigkeit zuvor die reale Reichweite der Einschränkungen zu übertreiben. Das real existierende Klasseninteresse gebähre eine Verschwörung - womit man sich in bedenkliche Nähe zum Diskurs der Rechten begibt.
Denn wie hätte der bürgerliche Staat denn auf die Situation reagieren sollen, damit die Sachbezogenheit seiner Massnahmen nicht beargwöhnt hätte werden können? Ist das überhaupt möglich? Ich wüsste nicht wie. Wie soll das öffentliche Interesse am Geschütztwerden vor einer Seuche - sowie das sehr viel privatere, nicht für Tote verantwortlich gemacht und so der eignen Karriere verlustig zu gehen - befördert werden, ohne dass die Misstrauischen und diejenigen, die den bürgerlichen Staat in den Orkus wünschen, so darauf reagieren, wie sie, Rechte und auch einige Linke es nun tun? Natürlich haben die Herrschenden kräftig am Ausmass dieses Dilemmas mitgewirkt, ja wirken ungerührt weiter, wenn man etwa auf die Themen Weissrussland, Nawalny, kurz Russland schaut. Das Misstrauen lässt sich konkret festmachen an politisch sensitiven, in den Relotius-Presse behandelten Themen.
Dennoch, die Seuche, die, das sei eingeräumt auch noch viel schlimmer sein könnte, ist objektiv gefährlich, nicht darauf zu reagieren zynisch, ja weitgehend unmöglich. Ihre politische Instrumentalisierung ist verlockend, aber leicht durchschaubar und daher politisch kontraproduktiv. Sie stärkt, was man bekämpfen will. Was daran ist so schwierig zu begreifen?