Ansicht umschalten
Avatar von Der_Ronny
  • Der_Ronny

929 Beiträge seit 24.04.2003

Legendenbildung

Ich bin schon länger als Leser auf Telepolis unterwegs, aber dieser Artikel hat mich erstmals bewogen, einen Kommentar zu schreiben.

Der ganze Artikel macht auf mich den Eindruck, daß mit erzählerischen Mitteln, die aus einem Thriller stammen könnten, versucht wird, eine Legende zu stricken. Der wahrhaftigste Satz ist wohl noch "Ich wollte nur meine Kollegen warnen, dass sie vorsichtig sein sollen." - Letztendlich beschreibt diese Aussage die ganze Intention des leider verstorbenen Li Wenliang. Er hat nicht die Weltöffentlichkeit gewarnt, indem er sich an die Presse oder diverse Whistleblower-Plattformen wandte, sondern nur seine Kollegen und Verwandten. Menschlich ist das mit Sicherheit nachvollziehbar. Nachvollziehbar ist ebenso das Verhalten der örtlichen Behörden, die unbestätigte Gerüchte nicht verbreitet sehen will, besonders bei der Schwere von ansteckenden Krankheiten wie SARS. Wir alle wissen, wie Gerüchte ausufern und welche Folgen sie insbesondere in Ballungsgebieten haben können.

Zum 'Whistleblower' wurde er durch die (sozialen) Medien gemacht. Er, ebenso wie einige anderen Ärzte, wurden durch Polizei und Krankenhausverwaltungen auch an ihre Verantwortung zur Panikvermeidung erinnert. Bei Verdacht auf ansteckende Krankheiten gibt es, wie überall, eine Meldekette, Vorschriften und Protokolle, die eben jene Panik vermeiden sollen. Man braucht fundierte Erkenntnisse, um einen Alarm auszulösen - Gerüchte reichen da nicht aus.

'Im Dezember 2019 hatte er sieben Patienten mit einer Lungenkrankheit untersucht, die, so stellte sich bei der Anamnese heraus, alle zuvor auf dem Fischmarkt von Wuhan gewesen waren. Sofort schrillten bei Li alle Alarmglocken. Er warnte vor der Wiederkehr des SARS-Virus,...' - Zitat Artikel. Wenliang war Augenarzt. Laut Artikel hat er im Chat vor einer 'mysteriösen Lungenkrankheit' hingewiesen und dann 'Sieben Fälle von SARS sind bestätigt'. Als fachfremder Arzt könnte er dazu keine Aussage treffen, es sei denn, er hat sie von Kollegen gehört und damit im Chat lediglich weitergeleitet.
Screenshots des geschlossenen Chats sind in die öffentlichen sozialen Medien geraten, wodurch die Behörden auf ihn aufmerksam wurden. Und nicht nur die. Wie bei Twitter & Co. üblich interessierten sich plötzlich sehr viele Leute für ihn und er wurde im gewissen Sinne zu einer öffentlichen Person. Als die Polizei ihn dann zur Aussage auf die Wache brachte, hieß es dann gleich 'Ärzte verhaftet, weil sie Wahrheit sagen!' - der Rest ist dann wie Stille Post: jeder dichtet was hinzu.

So werden Legenden gemacht, im Fall von Li Wenliang sogar Märtyrer: der tapfere Arzt (David) gegen die KP Chinas (Goliath) - in einem Jahr werden wir auf Netflix einen spannenden Polit-Thriller darüber sehen (man erinnere sich die Doku über den 'Freiheitskämpfer und Feuermagier' Joshua Wong).

Die stilistischen Mittel im Artikel entlarven ihn als Meinungs- und Haltungsjournalismus, sogar als Propaganda. Da wird die Mutter des Verstorbenen mit Erzählungen aus Lis Kindheit zitiert, um den Leser gleich auf eine emotionale Ebene zu bringen; es 'schrillen Alarmglocken' als dramatisches Bild. Dann werden angeblich Schutzmaßnahmen mündlich 'weitergereicht', weil die Polizei den Chat überwacht und damit hätte der Held '... wirklich viele Leute gerettet.' - eine reine Mutmaßung, die aber als Fakt verkauft wird.

Der Autor stellt in seinem Artikel auch die zeitlichen Abläufe nicht chronologisch, sondern erzählerisch dar, springt immer hin und her. Damit gewinnt man den Eindruck, Wenliangs Äußerungen hätten alles erst in Gang gebracht. Es gab zahlreiche Ärzte, die schon vorher Untersuchungen und Meldungen machten, den vorgeschriebenen Weg beschritten. Der Chat war vom 30.Dezember, die offizelle Meldung gabs am 31. Die ganzen folgenden Maßnahmen, inklusive Lockdown, waren auf Berechnungen der exponentiell steigenden Fallzahlen zurückzuführen. Das macht man nicht aus Alarmismus, sondern basierend auf Fakten. Peking hat die Sache dann übernommen und den zuständigen Funktionär der Regionalregierung gefeuert, weil er zu viel Fehler machte und zu viel Zeit verstreichen ließ. Zögerliches Handeln ist nicht nur in westlichen Regierungen weit verbreitet, nur hat das in China allerdings personelle Konsequenzen.

Die Kommentierung zum Rest des Artikels spar ich mir lieber. Es werden fast nur 'regimekritische' Quellen herangezogen und nicht hinterfragt, pro-chinesische Quellen (Nathan Rich) dafür aber diskreditiert. Der Autor stellt sich als Ermittler vor Ort dar ('fluchtartig den Markt verlassen!'), ohne Ahnung von asiatischer Mentalität zu haben. Er sieht alles aus einer 'überlegenen Sicht' heraus, in fester Überzeugung 'westlicher Werte'. Nur haben eben diese westlichen Werte aus einer chinesischen Epidemie eine weltweite Pandemie gemacht. Während die meisten asiatischen Länder durch SARS & Co. sensibilisiert waren und entsprechend reagierten, haben wir uns über diese übertriebenen und menschenverachtenen Maßnahmen echouffiert - wenn sie aus China kamen. Die gleichen Aktionen aus Südkorea und Taiwan waren hingegen 'vorbildlich'.

Einige Foristen meinen, der Artikel sollte gelöscht werden. Ich denke, er sollte als mahnendes Beispiel für einseitige Berichterstattung mit propagandistischen Zügen stehen bleiben - Fefe würde das wohl 'Medienkompetenzübung' bezeichnen.

Edit... 'Erstmals' muß ich wohl zurücknehmen: 7 Beiträge seit 2003. Wußte gar nicht mehr, daß ich schon einen Account hatte. Erklärt wohl auch die Schwierigkeiten beim Anmelden/Erstellen ;)

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (06.04.2020 13:42).

Bewerten
- +
Ansicht umschalten