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  • Carbidschieter

480 Beiträge seit 23.04.2014

Selfie - Stick und demografischer Wandel.

Der Gedanke an einen Dildo, den hier einige Kommentatoren zum Thema Selfiestick äußerten, ist keineswegs von der Hand zu weisen. Bereits in der Wortschöpfung "selfie" ist das englische Wort "selfish" enthalten. Das bedeutet allerdings keine neue Fangmethode für Schellfische mittels Speer, was einige Öken und Waldorfschüler vielleicht vermuten würden, sondern es heißt auf deutsch: egoistisch, selbstsüchtig. Ein echter Freudianer würde nun sogleich die Verbindung zwischen "stick" als Phallussymbol und den im Internetversand und einschlägigen Fachgeschäften erhältlichen männlichen Plastegliedern herstellen. Damit schließt sich der Kreis, denn die Vergnügungsparks sind auf Kinder als gut zu schröpfende Besucher angewiesen und die Zweckentfremdung des "Selfie-Sticks" stellt ein Hindernis zur Produktion der so heiß begehrten Kundschaft dar. Also ist im Interesse der "marktkonformen Demokratie" die natürliche Funktion gewisser Glieder marktwirtschaftlich zwingend geboten.

Nun ja, der alte Freud mit seiner eigenen verquasten Sexualität, er hat auch seine Verdienste, selbst wenn die Psychoanalyse heute überholt ist. Das Selfie ist tatsächlich "selfish". Ein viel belächeltes Massenphänomen waren die japanischen Touristen der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Selbst an den entlegensten Ecken spielte sich dieses Szenario ab. Bei einer Kontrollstation der "Aleyaska Pipline", jener Pipeline, die vom äußersten Norden der USA, der Prudhoe bay über Fairbanks nach Valdez führt, genießt der Tourist die Einsamkeit der Weite Alaskas. Die Stille wird unterbrochen durch das Nahen eines Reisebusses. Er hält abrupt an der Station und rund vierzig Japaner quellen aus dem Bus. Mit dürren Worten erklärt ein Führer den Zweck dieser Station und vor dem Reinigungskörper, einem stromlinienförmigen Stopfen aus einem speziellen Kautschuk, in der deutschen Verfahrenstechnik auch als "Molch" bekannt, der durch die Leitung mit dem Erdölstrom geschoben wird, baut sich die Reisegruppe auf und knipst sich. Die Amerikaner nennen den Molch ein "pig". Wenn das pig an eine Kontrollstation angekommen ist, wird dort das Rohr geöffnet, der abgeschabte Schlamm entsorgt und das pig entnommen. So will man Verstopfungen in der Pipeline verhindern. Für USA-Touristen eher wenig spektakulär, jedoch nicht für die Besucher aus dem Land der aufgehenden Sonne. Die wirtschaftliche Depression in jenem Land beendete den Tourismus weitgehend.

Doch dieses Verhalten ist typisch für eine gesichtslose Massengesellschaft. Das Selfie dient lediglich dem Zweck der Selbstdarstellung und in dem Grade, in dem eine Gesellschaft aus neoliberalen Gründen entsolidarisiert wird und gleichzeitig aus Kostendruck das Warenangebot immer gleichförmiger ist, wird aus dem verständlichen Wunsch des Individuums auch als solches wahrgenommen zu werden, eine krankhafte narzisstische Persönlichkeitsstörung. Es kommt also nicht mehr darauf an, durch eine besondere Leistung auf sich aufmerksam zu machen, sondern allein wichtig ist die Tatsache aus der verhassten Menge heraus zu ragen und sich optimal zu verkaufen.

Der Mensch als Produkt der Marketingexperten. Man muss gar nicht die Bundeskanzlerin als Beispiel wählen, die ein Kunstprodukt der Werbebranche ist, die mit der Marke "Mutti" ihre eigene geistige Substanzlosigkeit kaschiert. Ob am Arbeitsplatz, in der Schule, oder im öffentlichen Raum - alles wird öffentlich. Das Unterhaltsame daran ist die Peinlichkeit und Ignoranz dieser Selbstdarsteller, die nicht merken wie grottenschlecht sie sich präsentieren. Die Castingshows werden ja nur zu diesem Unterhaltungszweck produziert. Doch irgendwann gehen einem diese geistigen Knallfrösche fürchterlich auf die Nerven.

Dann erinnert der Selfie-Stick an ätzende Abende mit Diaprojektor und Leinwand im Herbst, wo die Urlaubsfotos präsentiert wurden bei Käse-Cracker und einer Flasche "Goldener Oktober". Die spannenden Titel dieser endlosen Reihen folgten dem Bildungsgesetz: "Papi vor der Akropolis, Mami vor der Akropolis, Papi und Mami vor der Akropolis..."

Die Selfie-Sticks sind also ein Produkt der "modernen" Konsumgesellschaft auf unterstem Niveau. Der Konsumidiot als Stütze eines feudalen Systems. Ein schönes Beispiel ist die Plastik von J. Seward Johnson jr. in Vancouver. Besonders herrlich sind die Lobeshymnen der US-Touristen, welche dieses Kunstwerk als so naturgetreu empfinden.

http://vancouver.ca/images/cov/content/Photo_Session_feature_image.jpg

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